Olivette Otele: „Afrikanische Europäer“
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Befreiende Vielfalt
06:03 Minuten

Olivette Otele
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer
Afrikanische Europäer. Eine unerzählte GeschichteWagenbach, Berlin 2022304 Seiten
28,00 Euro
Die britische Historikerin Olivette Otele erzählt afroeuropäische Biografien aus zwei Jahrtausenden – und entwirft daraus Bilder für eine schönere und freiere Zukunft.
Seit der Antike ist die Geschichte Europas mit der afrikanischen Geschichte verbunden: ebenso lange gibt es in Europa schon schwarze Menschen. Einige von ihnen porträtiert die britische Historikerin Olivette Otele in ihrem Buch „Afrikanische Europäer“: Sie erzählt eine Reihe von hoch interessanten, oft kaum bekannten Biografien von schwarzen Dichtern, Musikern, Politikern, Philosophen.
Sie beginnt mit der Legende des Heiligen Mauritius, die aus dem 4. Jahrhundert nach Christus stammt, und endet mit der jüngsten Generation britischer Grime- und Drill-Rapperinnen und -Rappern, die sich mit ihrer Musik der rassistischen Diskriminierung widersetzen. Aus all diesen Lebensgeschichten soll, so der Untertitel des Buchs, eine bislang „unerzählte Geschichte“ Europas entstehen, aus der sich ablesen lässt, wie divers die europäische Gesellschaft schon in früheren Jahrhunderten gewesen ist, aber auch: welche wandelnden Vorstellungen sich das weiße Europa in den vergangenen zweitausend Jahren von dem Kontinent in seinem Süden gemacht hat – und von den Menschen, die von dort kamen. Und das heißt nicht zuletzt: ab wann das Verhältnis zwischen weißen und schwarzen Europäerinnen und Europäern von der Idee der menschlichen Rasse und der Praxis des Rassismus beherrscht worden ist.
Der Heilige Mauritius in Magdeburg
Wir erfahren zum Beispiel, dass es im vermeintlich so dunklen Mittelalter höchst kosmopolitische Königshäuser gab, wie jenes von Friedrich II., der 1220 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde. Schwarze Künstler und Musiker prägten hier ein positives Bild der afrikanischen Kultur – und beförderten das Ansehen des schwarzen Märtyrers Mauritius, der als christlicher Heiliger um 1245 im Magdeburger Dom eine Statue erhielt.
Das Herzogtum Florenz wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Alessandro de‘ Medici regiert, Sohn vermutlich des späteren Papstes Clemens VII. und einer schwarzen Mutter. In Granada erhielt wenig später Juan Latino einen Lehrstuhl für Latein und Grammatik; er war als Sohn versklavter Eltern aus Äthiopien nach Europa gekommen, stieg dort nach seiner Freilassung zu einem der bekanntesten Humanisten auf und heiratete eine weiße Frau aus der Oberschicht.
Symbole der Wildnis
Das ist natürlich eine sehr ungewöhnliche Biografie – eine von vielen, die Otele in ihrem Buch erzählt und mit denen sie zeigt, dass schwarze Menschen nicht nur als Sklaven in Europa lebten und dass die europäische Kultur seit dem Ende des Römischen Reichs weit stärker von afrikanischen Einflüssen geprägt wird, als man gemeinhin denkt.
Aber sie zeigt auch, wie sich mit dem Beginn der Neuzeit die hierarchischen Vorstellungen von höher- und minderwertigen Rassen durchzusetzen beginnen. Und wie sich das schon im ausgehenden Mittelalter mit der sich wandelnden Darstellung von Schwarzen in der Kunst oder von Afrika auf Weltkarten andeutet: Wo die europäischen Länder mit Kathedralen und Schlössern und anderen Zeichen der Zivilisation geschmückt werden, sieht man in Afrika vor allem Symbole der Wildnis, Bestien und Monster.
Das Exzeptionelle und Exemplarische
Die Verbindung zwischen dem Exzeptionellen und dem Exemplarischen, zwischen den einzelnen Biografien und den historischen Entwicklungen, die sich darin spiegeln, gelingt Olivette Otele gut. Manchmal wünschte man sich, sie würde weniger sprunghaft und etwas stringenter schreiben. Auch sind ihre Betrachtungen der neuesten Popkultur, gerade im Vergleich zur Diskussion alter Quellen, überraschend ungenau und kursorisch.
Dennoch ist „Afrikanische Europäer“ unbedingt lesenswert. Wegen der wenig bekannten Geschichten, die Otele erzählt und wegen der präzisen Weise, in der sie dabei unterschiedliche Verständnisse von Identität und deren Wandel rekonstruiert. Die europäischen Gesellschaften der Neuzeit erklären schwarze Menschen und Kulturen ja nicht zuletzt deswegen zum „Anderen“, weil sie in der Abgrenzung dazu ihre eigenen Widersprüche befrieden, mit sich selber identisch werden wollen. Während die „Afrikanischen Europäer“, die dem Buch den Titel geben, alle möglichen Arten von hybriden Identitäten herausbilden.
Gerade die jüngste Generation wendet, wie Otele zeigt, das vermeintliche Stigma der doppelten Herkunft ins Schöpferische und Souveräne. So erhält man aus diesem Buch nicht nur ein besseres Verständnis der Vergangenheit, sondern auch einen Blick auf eine schönere und freiere Zukunft.