Olga Tokarczuk: „Übungen im Fremdsein“

Möglichkeiten der Literatur

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Das Cover zeigt drei überlappende Porträtaufnahmen von Olga Tokarczuk
Olga Tokarczuks Buch "Übungen im Fremdsein" © Deutschlandradio / Kampa Verlag
Von Sabine Adler · 30.10.2021
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Die polnische Literaturnobelpreisträgerin denkt über das Reisen im Migrationszeitalter, das Leid der Tiere oder den Missbrauch von Sprache nach. Vor allem aber gewährt sie einen Blick auf Handwerk, Mühe, Motivation und Lust des Schreibens.
Olga Tokarczuk hält ein leidenschaftliches Plädoyer für das fiktionale Schreiben. Gerade weil es noch nie so viele Menschen gegeben hat, die ihre Geschichte dank Internet einem großen Publikum mitteilen können, werde der Markt überschwemmt mit Ich-Geschichten. Erzählungen also, die angeblich wahr und real, die aber trotzdem unvollständig und wenig befriedigend seien. Da das Autoren-Ich gerade keine Universalität garantiere, brauche es die Fiktion, die parabolische Dimension, die sich auf Andere und Anderes übertragen lässt. Die Parabel gestalte unsere individuelle Erfahrung zu einer universellen um, indem sie für unterschiedliche Schicksale einen gemeinsamen Nenner finde.

Verzicht auf Reisen

"Übungen im Fremdsein", der der Essay- und Reden-Sammlung den Namen gab, war ein Artikel von 2017 über das Reisen, das heute leider keinerlei Annäherung an Menschen anderer Länder brächte, weil der Tourismus in einer Parallelwelt eigens für die Gäste stattfinde. Außerdem sei das Reisen, das für die Glücklichen ein Akt der Freiheit darstelle, für Millionen flüchtender Menschen so ungerecht geworden, dass der Autorin die Lust daran vergangen ist.
"Kann man sich im Flugzeug bequem zurücklehnen, wenn in der Gegenrichtung Menschen unterwegs sind, die sich in Containern drängen?" Sie beschließt: "Ich werde in fremden Städten keine Museen mehr besuchen, solange ich nicht in den Museen meiner eigenen Stadt gewesen bin."

Loblied auf Exzentrik und Nichtsgehörtes

Der Band ist vor allem aber ein Loblied auf das Schreiben und die Liebe zu den lebendig gewordenen literarischen Gestalten. Sie würden fortleben, wenn die Schriftsteller längst zu Staub zerfallen seien. Tokarczuk, die zurückgezogen in den Bergen lebt und schon mit zwölf wusste, dass sie Schriftstellerin sein wollte, spricht über Monate und Jahre voller Einsamkeit im eigenen Kosmos, allein mit inneren Dialogen und Vorstellungen. Sie wirbt ausdrücklich für eine exzentrische Position als Autorin, die gerade nicht im Mainstream denken dürfe, sondern Neues, Bereicherndes, bislang Nichtgehörtes bieten müsse, alles "was keinen Platz im Kanon findet, was die herkömmlichen Grenzen überschreitet."

Mechanismen des Literaturmarkts

Der Literaturmarkt teile Bücher nur noch nach Sparten ein, Schubladen hätten sich verfestigt. Bücher entstünden wie in Kuchenformen, wobei Vorhersehbarkeit als Tugend gelte und Banalität als Errungenschaft. Olga Tokarczuk beklagt: "Der Leser weiß, was er zu erwarten hat und bekommt genau das, was er wollte." Doch ohne Exzentrik könne keine Kunst entstehen.
"Übungen im Fremdsein" wirbt für Literatur als ein Spiel mit den Welten und Möglichkeiten sowie für das Wunder des Lesens. Die 59-Jährige sieht sich nur in zweiter Linie als Schriftstellerin und in erster Linie als Leserin, die nach bestimmten Büchern, wie denen von Freud oder auch Coetzees "Das Leben der Tiere" den unschuldigen Blick verloren habe, wo nichts mehr gewesen sei, wie es einmal war. Sie fragt, was viele Schreibwillige gewiss gern wüssten: Kann man Schriftstellerei lernen wie ein Musikinstrument oder Yoga? Olga Tokarczuk ist sich da nicht so sicher.

Olga Tokarczuk: "Übungen im Fremdsein"
Essays und Reden. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag, Zürich 2021
322 Seiten, 24 Euro

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