Oft gelobt, oft genutzt?

Von Angelika Calmez · 01.10.2010
Wenn Schüler etwas über jüdisches Leben erfahren, geschieht dies meistens im Kontext des Nationalsozialismus. Im hessischen Langen können Schüler ihre Perspektive nun verändern - buchstäblich im Gehen.
"Das ist das Haus der Familie Kahn. Dieses Haus hatte eine besondere Bedeutung in den 20er-, 30er-Jahren, weil hier das Kaufhaus untergebracht war. Das war eine Besonderheit, weil eigentlich nur größere Städte wie Darmstadt oder Frankfurt Kaufhäuser hatten. Und Herr Kahn lud immer die Bevölkerung dazu ein, seine Schaufenster zu betrachten."

In der hessischen Stadt Langen, an einem verkehrsreichen Vormittag. Marion Imperatori klappt ein Buch auf und deutet auf ein Schwarz-Weiß-Foto des Hauses vor ihr. Wer mit der angehenden Lehrerin durch die Straßen ihres Wohnortes geht, lernt viele Kinder und Familien aus dem Jahr 1930 kennen, neben den Kahns zum Beispiel Schulmädchen Trude oder die Bürstenmacherin Selma. Ihre Geschichten hat Marion Imperatori niedergeschrieben: "Als die Kinder in Langen samstags zur Synagoge gingen", heißt ihr Kinderstadtführer für den Grundschulunterricht. Sie hat ihn als Examensarbeit an der Frankfurter Uni verfasst und ein neues Konzept entwickelt:

"Die anderen Bücher, die ich kenne zum Thema Nationalsozialismus, die behandeln immer direkt das Schicksal eines Kindes oder einer Familie, die entweder umgekommen ist, ermordet wurde oder die flüchten musste. Und ich versuche hier den Einstieg, darüber, dass ich erst den deutsch-jüdischen Alltag zeige."

In die gemeinsame Lebenswelt jüdischer und nicht-jüdischer Langener lässt Marion Imperatori die Viertklässler eintauchen. Der Clou: Sie erfahren erst im Lauf der Zeitreise, dass ihre "Freunde" von 1930 jüdischer Religion sind. So lernen die Schüler Juden nicht als homogene Gruppe von Verfolgungsopfern kennen. Sie erleben jüdische Menschen als gleichwertige Bürger und individuelle, lebensbejahende Personen. Für sie entwickeln die Kinder Empathie.

Teil zwei des Buches beschreibt Ausgrenzung und Deportation der einstigen Nachbarn. Danach gibt das Buch noch einen Ausblick auf das heutige jüdische Leben. Kinder brauchen Überlebende als Identifikationsfiguren, urteilt Monica Kingreen. Sie ist Mitarbeiterin des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung von Geschichte und Wirkung des Holocausts. Sie hat bereits zahlreiche Materialien für Lehrkräfte herausgegeben; im Oktober 2009 auch die von Marion Imperatori. Ein leuchtendes Beispiel, hofft Monica Kingreen:

"Dieser Stadtführer zu Langen steht auch exemplarisch und kann auch, wenn genug Recherche geleistet worden ist, in jedem andern Ort entwickelt werden. Dass man versucht, in kindgerechter Sprache, möglichst anschaulich so etwas zu erarbeiten. Insofern ist es ein sehr einfaches, aber ein sehr innovatives, gelungenes Konzept."

Der Kinderstadtführer biete sehr gutes Grundwissen zu jüdischen Festen und Feiertagen, gebunden an Personen, lobt die Herausgeberin. Was die NS-Verfolgung angeht, konzentriert sich Marion Imperatori auf den Prozess der Ausgrenzung. Auch KZs kommen vor - als "Lager", wo es nur sehr wenig zu essen und zu trinken gab und keine Medizin. Der Stadtführer spricht Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren an. Diese Altersgruppe sei aber mit dem Thema überfordert, findet die Schulleiterin der Langener Geschwister-Scholl-Schule. Manuela Mück möchte das Thema NS-Zeit nicht vertiefen. Auch nicht anhand des neuen Buchs:

"Ich find' das schon sehr gut aufbereitet. Aber ich denke, dass es einfach für unsere Schüler ganz andere Dinge gibt, die für sie im Moment gerade aktuell und wichtig sind und die sie lernen müssen. Mein Eindruck ist, dass Kinder in der achten Klasse noch stark damit zu kämpfen haben, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Wir haben das bis heute nicht aufgearbeitet, keiner von uns. Ob man da mit zehn anfangen muss, weiß ich nicht."

Dieses Argument lässt Marion Imperatori nicht gelten. Der Alltag sei voll von Spuren der NS-Zeit, etwa die Aufregung über Nazis. Die Schule müsse die Hintergründe erklären. Alle Langener Schulen besitzen Exemplare des Kinderstadtführers. Ihnen bietet Marion Imperatori schon seit mehreren Jahren Rundgänge mit Schülern zum jüdischen Leben und anschließende Vorträge über die NS-Zeit an. Aber insgesamt wurde sie nur vier Mal angefragt. Einmal von Sonja Trietsch:

"Sie hat also alles erzählt, was die Nationalsozialisten gemacht haben, und sie hat es immer wieder an der Familie von der Trude festgemacht. Also das hat die Kinder auch interessiert, das hab' ich gemerkt, also immer wieder an diesem persönlichen Schicksal."

Die Grundschulpädagogin konnte sich nur außerplanmäßig so intensiv mit dem Kinderstadtführer beschäftigen. Ihr Lehrplan gibt nicht vor, jüdisches Leben oder den Holocaust zu vertiefen. Daher kann Sonja Trietsch künftig höchstens eine Doppelstunde dafür aufbringen. Das wird sie tun, weil diese Themen ihr persönlich am Herzen liegen. Sie freut sich über das anschauliche Material. Generell gehört die NS-Zeit nicht zum beliebtesten Stoff in der Grundschule, nicht zuletzt gibt es auch noch andere Bücher darüber. Marion Imperatori wünscht sich, dass wenigstens ihr Ansatz übernommen wird:

"Ich kann es nachvollziehen, wenn Lehrer selbst sich vor diesem Thema scheuen. Aber ich fände es dann wichtig, dass sie wenigstens jüdisches Leben behandeln. Damit eben später, wenn Kinder in der weiterführenden Schule die NS-Zeit als Thema haben, dass sie dann jüdisches Leben schon vorher als positiv erfahren haben."
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