Die offene Gesellschaft im Krieg

Die Stunde der Abenteurer und Trickster

Digitale Collage zeigt eine gereckte Faust in einem geschlossenen gelben Kreis auf grünem Untergrund.
Gerade die offene Gesellschaft hat Heroismus nötig, meint Gesine Palmer. Und wenn sie wegen einer Bedrohung auf Geschlossenheit setzt? © Getty Images / iStockphoto / Sasin Paraksa
Gedanken von Gesine Palmer |
Im Krieg rücken die Menschen zusammen, Unterschiede werden nivelliert – und aus offenen Gesellschaften geschlossene Fronten. Dass manche aus dieser Geschlossenheit ausbrechen, könne auch Gutes bewirken, meint die Religionsphilosophin Gesine Palmer.
Wenn Staaten gegen Staaten kämpfen, wenn Krieg herrscht, wenn im Wettstreit der Systeme alles auf entweder so oder so ankommt – dann schlägt die Stunde der Geschlossenheitspredigt. Die Guten müssen geschlossen zusammenstehen – und ihr Ziel ist es, die natürlich ebenfalls geschlossene Front der Bösen zu knacken und aufzubrechen.
Das gilt militärisch allemal. Es gilt selbstverständlich auch an den vielen langjährigen Sanktionsfronten. Da will dann immer eine – mehr oder weniger konkrete – Staatengemeinschaft einen mehr oder weniger deutlich erkennbaren Schurkenstaat isolieren und damit seine Machtansprüche brechen.

Kompakter Angriff, geschlossene Verteidigung

Diese Strukturen tun der von allzu komplexen Realitäten oftmals überforderten menschlichen Seele auf eine kuriose Weise gut – und darum haben Kriege mit ihren Frontbegradigungen, mit ihrem Eindeutigmachen von Freund und Feind in der Geschichte immer wieder das Leben differenzierter, hoch entwickelter Kulturen beendet. Die Kompaktheit des Angriffs erzwingt, so scheint es, die Geschlossenheit der Verteidigung, wenn man sich nicht einfach unterwerfen will.
Freilich, wo die offene Gesellschaft ihre Idee verteidigen will – hat sie da nicht schon verloren, wenn sie ganz auf Geschlossenheit setzt? Ist es nicht erst die Offenheit für andere Positionen, die unsere Gesellschaften lernfähig, flexibel und vor allem lebenswert machen?
Gewiss, gerade die offene Gesellschaft hat Heroismus nötig, und mit Recht zitieren Demokrat:innen gern die brillante Formulierung von Voltaires Biografin Evelyn Beatrice Hall: „Ich missbillige Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen“.

Täglich sterben Menschen für die Freiheit

Tatsächlich sind schon allzu viele Menschen für diese Freiheit gestorben, und es sterben täglich Menschen für sie, in der Ukraine, im Iran, in Saudi-Arabien und an vielen anderen Orten der Welt. Sie alle verdienen unsere Solidarität.
Aber wie kann diese konkret aussehen?
Es wird „uns“, also den westlichen Freund:innen der offenen Gesellschaft, sicher mit noch so geschlossenen Sanktionsgemeinschaften niemals gelingen, alle tyrannischen Regimes dieser Welt zu stürzen. Tatsächlich ist gerade die Bilanz der gelungenen langjährigen Isolierung von Regimen in Nordkorea oder dem Iran eher ernüchternd.
Und dem unvoreingenommenen Blick fällt in den aktuellen Auseinandersetzungen etwas ganz anderes auf: Da ist es oft eher die „Schwachstelle“ in unserer eigenen geschlossenen Front, die sich als hilfreich für eine neue Wendung der Ereignisse erweist.
Wenn russische Männer sich der Mobilmachung entziehen wollen, kommen sie zurzeit wegen unserer Geschlossenheit nicht nach Westeuropa. Aber die Lücken in der Sanktionsfront machen es möglich, dass viele von ihnen über Katar, die Türkei und Israel ausreisen können. Wenn iranische Protestler ihre Proteste auch über das Internet koordinieren können, so liegt das daran, dass sich unter anderem Elon Musk dazu entschlossen hat, Technik aus dem All bereitzustellen, um das Sanktionsregime zu umgehen.

Abweichler können Gutes bewirken

Auch in unserer höchsteigenen Geschichte gibt es Beispiele dafür, wie nicht nur opfermutige Helden, sondern gerade die Trickster, Abenteurer und Abweichler erstaunlich Gutes bewirkten.
Das bekannteste Beispiel ist sicher Oskar Schindler, ein Unternehmer und Lebemann, der eher sein Eigeninteresse verfolgte als sich zu irgendeiner geschlossenen Gemeinschaft zu bekennen, dabei aber ein gesundes Urteil besaß und Tausenden von Jüdinnen und Juden mit Tricks und Verstellung das Leben rettete.
Der Mut zur sozialen Devianz wird im Frieden selten geschätzt – und kriminelle Energie ist mit Recht verpönt. Im Kriegsfall jedoch, in dem man auch Partisanenqualitäten braucht, wurden gerade diese Eigenschaften gebraucht, wenn es noch irgendwo zwischen den Fronten ein bisschen menschlich zugehen sollte.
In solchen Situationen sind die „guten Trickster“ ein bisschen wie die Philosophen gerne wären: „Stachel im Fleisch“ der allzu geschlossenen Gesamtheit.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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