Obdachlose Arbeitsmigranten

Wenn der Traum vom besseren Leben platzt

07:17 Minuten
In einem Wald steht ein kleines blau-grünes Zelt, daneben ist ein Fahrrad an einen Baum gelehnt.
Viele Arbeitsmigranten sind illegal beschäftigt und haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. © imago images / IPON
Von Thyra Veyder-Malberg · 12.07.2021
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"In Deutschland gibt es immer Arbeit": Mit dieser Hoffnung im Gepäck kommen viele EU-Ausländer nach Deutschland. Doch viele scheitern und landen auf der Straße, ohne Anspruch auf Unterstützung - insgesamt etwa 40.000, so schätzen Experten.
"Hier wohne ich", sagt Ákos. Hier, das ist eine kleine, bewaldete Brache direkt neben den Gleisen am Stadtrand von Leipzig. Zwischen Büschen, Bäumen und der Lärmschutzwand des nahen S-Bahnhofes hat der Ungar sein Zelt aufgeschlagen.
Es gibt einen kleinen Grill, auf dem er Essen warm macht und einen Klappstuhl. Außerdem hat er sich aus Backsteinen und einem alten Autoreifen eine Konstruktion gebaut, die ihm als Feuerstelle und als Klo dient. Denn Ákos ist obdachlos – und hat als EU-Bürger, der erst seit Kurzem in Deutschland lebt, kaum Anspruch auf staatliche Hilfen. Doch eigentlich ist der 44-Jährige nach Deutschland gekommen, um der Obdachlosigkeit in Ungarn zu entkommen, und nicht, um sich alimentieren zu lassen:
"Ich möchte arbeiten. Egal was, angefangen von Hilfsarbeiten auf dem Bau, Rasenmähen, ich übernehme jede Arbeit. Aber weil ich kein Deutsch spreche, ist es schwer."
Zunächst hatte er eine Stelle als Reinigungskraft in einer Fleischfabrik. Doch er kam mit seinen Kollegen nicht gut aus – und verlor erst seinen Job und dann seine Wohnung. Der Traum vom besseren Leben war fürs erste ausgeträumt. Aufgeben will er aber nicht:
"Ganz ehrlich, ich verachte die Leute, die hier in Deutschland mit 44, 45 oder 50 nur auf der Straße dahinvegetieren."

40.000 wohnungslose EU-Ausländer

Auch Wojtek ist nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Der gelernte Drechsler wollte sich auf dem Bau einen Job suchen. Viel zu verlieren hatte er nicht, denn auch er war bereits in seiner Heimat Polen obdachlos.
"Bei uns wurde immer gesagt: In Deutschland gibt es immer viel Arbeit. Man fährt einfach hin, das Problem ist bloß die Sprache, nicht wahr?"
Dauerhafte Arbeit hat auch er nicht gefunden, seit fünf Jahren lebt der 53-Jährige schon auf der Straße. Die beiden sind nicht allein: Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe haben in Deutschland derzeit rund 40.000 Menschen aus dem EU-Ausland keine Wohnung. Das sind etwa 17 Prozent der regulär Wohnungslosen.
Tino Neufert ist so etwas wie ein Experte für geplatzte Träume. Seit die Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle Länder der EU gilt, trifft der Straßensozialarbeiter in Leipzig immer häufiger auf obdachlose EU-Ausländer – vor allem aus Osteuropa. Viele seiner Klienten, sagt er, hätten es schon in ihren Heimatländern schwer gehabt.
"Menschen, die hierhin kommen, haben ihre Biografien, die sie dazu bringt, hierherzukommen. Zum Teil ist das Hoffnung: Ich möchte hier Geld verdienen, Deutschland ist ein reiches Land, ich kriege hier einen guten Stundenlohn, ich werde gut arbeiten. Zum Teil ist das so eine Art Glückssuche, auch das Recht sich herausnehmen zu können, irgendwohin zu gehen, wo es mir vielleicht bessergeht, besser als in meinem Herkunftsland."

Nur prekäre oder Schwarzarbeit

Oft sind diese Menschen bereit, unter sehr prekären Bedingungen zu arbeiten, vielfach auch schwarz, etwa auf einer der zahlreichen Baustellen der Messestadt, sagt Neufert. Wenn sie in diesen Jobs nicht zurechtkommen, "weil sie vielleicht eine Suchtproblematik hatten oder eine psychische Auffälligkeit, irgendwas, was dem 'Arbeitgeber' nicht gepasst hat, dann fliegen die halt raus. Die haben keinerlei Absicherung. Und mit denen können wir ziemlich wenig anfangen, weil das Sozialsystem den Menschen verschlossen ist."
Denn: EU-Bürger haben erst dann Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen, wenn sie bereits seit fünf Jahren in Deutschland leben und dies auch nachweisen können. Auch durch Arbeit können sie Ansprüche auf Sozialleistungen erwerben. Doch vielen gelingt das nicht, sei es, weil sie keinen Job finden oder nur schwarzgearbeitet haben oder nicht lange genug beschäftigt waren, um einen dauerhaften Anspruch auf Hartz IV zu haben. Wer aber kein Geld bekommt, der bekommt auch keine Wohnung und hat allzu oft keine Krankenversicherung.
Die deutsche Gesetzgebung sei darauf angelegt, EU-Ausländern den Zugang zum Sozialsystem zu erschweren, sagt Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe:
"Der deutsche Staat legt auch sehr viel Wert darauf, diese Menschen wieder loszuwerden. Es gibt zwar die EU-Freizügigkeit, aber eigentlich – also de facto – nur für denjenigen, der einen festen Job hat. Sie können sich natürlich auch eine Weile hier aufhalten, arbeitssuchend, aber es wird schon Wert daraufgelegt, dass diese Menschen wieder verschwinden sollen, um das mal so klar auszudrücken."

Am Ende bleibt nur Flaschen sammeln

Ohne Hartz IV sind die Betroffenen auf die Hilfsangebote vor Ort angewiesen, auf meist städtisch finanzierte Obdachlosenunterkünfte und Straßensozialarbeit, und auf Beratungsstellen, Wärmestuben, Armenspeisung und Kleiderkammern, die oft genug von ehrenamtlichen Helfern getragen werden.
Auf eines haben die EU-Bürger, die in eine Notlage geraten sind, nach deutschen Recht Anspruch: auf eine Rückfahrkarte in ihr Heimatland. Aber viele wollen nicht zurück – denn allzu oft haben sie nichts, wohin sie zurückkehren können. Und in einer verhältnismäßig reichen Gesellschaft wie der deutschen bleibt am Ende immer noch mehr übrig als zu Hause, sagt Wojtek:
"Hier in Deutschland kann man vom Pfandflaschensammeln irgendwie leben. In Polen ist es außerdem sehr schwierig, an Sozialleistungen zu gelangen."
Ein Mann mit Turnschuhen und schlecht sitzenden Jeans durchsucht einen Abfalleimer an einer Parkbank. Er trägt mehrere große Plastiktaschen und einen Rucksack über der Schulter.
Viele Arbeitsmigranten, die in Deutschland scheitern, hatten bereits in ihrer Heimat Probleme. (Symbolbild)© imago images / Michael Gstettenbauer
Auch Ákos lebt derzeit vom Flaschensammeln. Und er ist für die Hilfe, die er hier trotz allem bekommt, dankbar. In seiner Heimat sei das anders:
"Dort scheißen sie auf die Obdachlosen. Dort gibt es nicht die vielen Hilfen, die ich hier in Deutschland bekomme, von den Sozialarbeitern oder von der Bahnhofsmission. Hier sind die Menschen anders, direkter. Sie spucken nicht auf dich, weil du obdachlos bist oder Kippen sammelst oder den Müll durchsuchst."

Auch für die Gescheiterten sorgen

Wojtek und Ákos hoffen beide darauf, dass es für sie wieder aufwärtsgeht. Wojtek hat inzwischen seiner Alkoholsucht den Kampf angesagt, Ákos will Deutsch lernen. Doch ob es den beiden gelingt, sich aus der Obdachlosigkeit in den Arbeitsmarkt zurückzukämpfen, ist unter diesen Umständen mehr als fraglich.
Für Werena Rosenke gehört zur europäischen Freizügigkeit dazu, auch für jene zu sorgen, die hier scheitern:
"Wir denken, die Freizügigkeit kann nicht nur für Menschen gelten, die sich das leisten können. Und von daher müssen die Zugänge erleichtert werden, auch zu sozialhilferechtlichen Ansprüchen, aber vor allem die Grundversorgung muss sichergestellt sein. Wir halten es für absolut notwendig, dass diese Menschen geregelt Zugang zu Notunterkünften erhalten, wir brauchen deutlich mehr Clearingstellen, da gibt es einige, die sich damit beschäftigen, den Krankenversicherungsstatus abzuklären. Das sind ja schon wesentliche Dinge, die an die Existenz gehen."
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