Überleben auf dem "fünften Arbeitsmarkt"
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Das Betteln galt hierzulande einmal als ein bald überwundenes Phänomen. Heute gehören bettelnde Menschen wieder fest zum Stadtbild. Sie treffen auf eine Gesellschaft, die sie mit einer Mischung aus Mitleid, Furcht und Verachtung betrachtet.
"Ich glaube, es gibt keinen Ort, keine Straße in Berlin, wo Betteln nicht irgendeine Relevanz hat", sagt die Sozialarbeiterin Anna-Sofie Gerth, die in Berlin-Wilmersdorf eine Tagesstätte für Wohnungslose leitet. "In jeder S-Bahn, in jeder U-Bahn, an den großen Plätzen in Berlin, ich würde sagen, an jedem zweiten Supermarkt. Auch in Banken, wo Menschen einem die Tür aufmachen, in der Hoffnung, dass man ihnen etwas in ihren Becher wirft."
Doch auch wenn man die Bettler in der Hauptstadt an jeder Ecke sieht, bleiben sie für den Rest der Gesellschaft in gewisser Weise unsichtbar. Man steckt ihnen Geld zu oder Essen, man ignoriert sie oder ist genervt, wenn man auf einer S-Bahn-Fahrt zum gefühlt hundertsten Mal mit einer vermutlich ausgedachten Elendsgeschichte konfrontiert wird. Was weiß man schon über ihr Leben, wie sie ihren Alltag organisieren und wie sie es schaffen, in Berlin auf der Straße zu überleben?
Ronny, 33, Straßenpunk am Bahnhof Zoo
Es sind Menschen wie Ronny, Straßenpunk und 33 Jahre alt. Ein kleiner, kräftiger Mann mit hellen Augen und vielen Zahnlücken. Ein freundliches, offenes Gesicht, schwer gezeichnet durch Alkohol, Drogen und neun Jahre auf der Straße. Eigentlich sei er Gärtner, sagt Ronny. "Schule beendet und die Ausbildung beendet. Und dann sollen sie mir mal Obdachlose zeigen, die Schule und Ausbildung beendet haben. Das sind nicht viele."
Ronny lebt in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten, seit Jahrzehnten ein Hotspot für Obdachlose, Stricher und Drogenabhängige. Sein Geld verdient er als Bettler:
"Ich setze mich irgendwo hin, wo Leute vorbeikommen, stell den Becher hin, die Leute kommen direkt zu mir und schmeißen es rein." Manche würden sich auch mit ihm unterhalten. Er selbst spreche die Leute allerdings nie an. "Weil ich einen Respekt habe vor die Leute", so Ronny. "Weil ich obdachlos bin, habe ich Respekt."
Von Kindern will Ronny kein Geld
Über die Jahre hat sich Ronny einen Stammplatz zum Betteln erkämpft, vor einem großen Supermarkt. Ein Premiumplatz, denn das Geschäft ist jeden Tag geöffnet und hat viel Laufkundschaft. Zwischen 10 und 30 Euro bekomme er täglich in seinen Becher, sagt er. Und dann sind da noch die Leute, die ihm kein Geld geben, aber ihm etwas kaufen wollen.
"Einige fragen mich, bevor sie in den Laden reingehen: Brauchst du irgendwas?", erzählt Ronny. "Nee, ick hab alles", sage er dann. Aber wenn sie dann fragen: Brauchst du noch ein Bier? – "Ja, gern."
Nur von Kindern will er kein Geld haben: "Es gibt auch Familien, die geben den Kinder das Geld in die Hand und die Kinder schmeißen das Geld in den Becher rein." Für Ronny ein "No-Go": Warum machen die Eltern es nicht selbst, sondern schicken die Kinder vor?
Die Jahre auf der Straße und der Alkohol haben Ronnys Gesundheit angegriffen. Er leidet unter Krampfanfällen – und hat inzwischen auch keine Lust mehr, auf der Straße zu leben. Schon gar nicht in Berlin: "Die Osteuropäer, Südländer, also die ganzen, die vom Ausland kommen, es wird mir zu viel", erklärt er. Ronny träumt davon, nach Hamburg zu gehen und dort sesshaft zu werden.
Nicht nur, weil dort weniger Ausländer seien. Auch wegen des FC St. Pauli, dessen Fan er ist. Und wegen des frischen Fischs: "Kann sein, dass ich dann auch mit auf einen Kutter gehe, zum Arbeiten, zum Fischfang."
Neue Formen des Bettelns
Straßenpunks wie Ronny, die vom Schnorren leben, gehören in Berlin gewissermaßen zum Lokalkolorit, genauso wie die Musiker in den S- und U-Bahnen. Doch in den letzten Jahren sind neue Formen des Bettelns hinzugekommen: Straßenzeitungsverkäufer oder Flaschensammler etwa, die zwar etwas tun, aber ebenfalls auf guten Willen ihrer Umgebung angewiesen sind, ihnen etwas zukommen zu lassen.
So hat sich am unteren Rand der Gesellschaft in den letzten Jahren eine Art Schattenökonomie des Bettelns entwickelt, von der niemand so genau weiß, wie viele Menschen sie ernährt:
"Es gibt keinerlei Statistik", sagt die Sozialarbeiterin Anna-Sofie Gerth. Die Zahl der Bettler in der Stadt sei aber auf jeden Fall vierstellig. Denn es gebe etwa 6000 Obdachlose in Berlin. Von denen betteln zwar nicht alle. Aber umgekehrt ist auch nicht jeder Bettler obdachlos.
"Pfandsammeln und Zeitungverkaufen – das machen schon eher Leute, die noch Wohnraum haben, die mit ihrem Geld nicht klarkommen oder die sanktioniert sind vom Jobcenter, weil sie irgendwelchen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sind," erklärt Wilhelm Nadolny, Leiter der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten in Berlin.
Die Hemmschwelle ist gesunken
Das Aufkommen dieser "Nebenerwerbsbettler" liegt zum einen daran, dass sich die soziale Lage für viele Menschen in Berlin in den letzten Jahren verschlechtert hat.
Zum anderen könnte es aber auch Ausdruck eines Kulturwandels sein: Denn seit der Hartz-IV-Debatte ist der Umgang mit Armut offener und offensiver geworden.
Armut wird nicht mehr so versteckt wie früher, sondern viele Menschen haben weniger Scheu, Hilfe in Anspruch zu nehmen: Zum Beispiel zu den Tafeln zu gehen, um günstig Lebensmittel zu kaufen.
Inzwischen scheinen auch manche Formen des Bettelns nicht mehr tabuisiert zu sein: "Ich würde sagen, Flaschensammeln ist nicht mehr so schambehaftet", sagt Anna-Sofie Gerth.
"Wenn ich sehe, es gibt Leute, die haben Einkaufswagen, die besonders präpariert sind, damit man besonders viele Flaschen sammeln und es ganz toll stapeln kann, dann zeigt das ja auch: Ich kann was. Ich kann nicht nur Flaschen sammeln, sondern auch noch ein Konzept entwickeln, wie ich besonders viele sammele. Und das wird schon anerkannt. Dass da so eine Hemmschwelle gesunken ist, das würde ich schon sagen."
Für Anna-Sofie Gerth von der Berliner "City-Station" steht dahinter auch eine Generationenfrage: "Die Älteren, die hier zu Gast sind, die Nachkriegsgeneration, die wissen, wie die mit zwei Scheiben Brot und Butter die Woche überleben, die kriegen das irgendwie hin", sagt sie. "Ich glaube, dass das Menschen, die ein bisschen jünger sind, die solche Zeiten nicht durchmachen mussten, dass da auch Kompetenzen fehlen, wie überlebe ich mit zwei Scheiben Brot die Woche."
Für die sei es dann einfacher, rauszugehen und Flaschen zu sammeln. "Weil sie eben nicht mehr dumm angemacht werden, weil es gesellschaftlich minimal akzeptierter ist oder da so eine Toleranz entsteht."
Klaus, 63, Hartz-IV-Empfänger und Flaschensammler
Klaus ist 63, ein großer, schwer übergewichtiger Mann, der sich nur noch mit Mühe ohne Rollstuhl fortbewegen kann. Früher hat er Getränke ausgefahren und sich erfolglos als Selbständiger versucht. Jetzt sind die Knie kaputt und das Geld vom Amt reicht hinten und vorne nicht:
"Von Hartz IV ist schwer zu leben, jedenfalls für einen Menschen, der früher normal gelebt hat", sagt er. "Dann musste ich eben sehen, was ich mache. Und in der S-Bahn hat mir eines Tages einer mal ein paar 'Straßenfeger' (Berliner Straßenzeitung, die 2018 eingestellt wurde) in die Hand gedrückt. Verkauf doch mal so was, sagt er zu mir. Hab ich gesagt, na warum nicht?"
Inzwischen bessert Klaus sein Hartz IV auf, indem er in einer vornehmen Villengegend Berlins die Straßenzeitung "Motz" verkauft. So drei, vier Stunden am Tag müsse man das schon machen, sagt er. "Wenn man Glück hat, verdient man gut, und manchmal sitzt man auch eine Stunde, wo gar nichts läuft."
250 Euro Verdienst pro Monat
Insgesamt kämen so etwa 250 Euro im Monat zusammen, sagt Klaus.
Vorausgesetzt er halte sich an bestimmte Regeln. "Man muss gut angezogen sein, das heißt normal, man darf nicht Zigaretten rauchen, man darf nicht Alkohol trinken, so was wollen die Leute nicht haben", erklärt er. "Selbst wenn mir mal die Augen zufallen, die Leute sehen alles, wenn ich mal ein Loch im Strumpf habe oder wenn ich mal eine Tüte da zu liegen habe, das wollen die Leute nicht. Der Platz muss ordentlich aussehen! Desto mehr Trinkgeld gibt's."
Allerdings wollen die meisten Leute gar keine Zeitung. Sondern sie geben ihm lieber so Geld. Ist Klaus damit dann nicht eigentlich ein herkömmlicher Bettler? Er widerspricht heftig:
"Eben nicht! Weil ja manchmal auch Leute kommen und mir eine Zeitung abkaufen, das ist ja nicht, dass nun gar keiner kommt. Eine Zeitung muss dabei sein, das ist das mindeste, dass man wenigstens vor sich selber sagen kann, ich bin ein Verkäufer und kein Bettler."
Den Schein wahren – auch vor sich selbst
Aber das Motiv der Leute, ihm Geld zu geben oder eine Zeitung abzukaufen, ist doch Mitleid? "Ja, so ungefähr", räumt Klaus ein. Findet er das nicht ein bisschen komisch? "Ja, es ist nicht gut. Ich meine nur, im Moment lässt sich da nichts machen. Es ist ja so schon deprimierend, aber wenn da wenigstens eine Zeitung dabei ist, kann man ja den Schein noch wahren. Vor sich selber."
Deprimierend findet Klaus auch, dass man immer mehr weniger Geld auf der Straße verdient, weil inzwischen so viele dort unterwegs sind: "An jeder Ecke stehen die", sagt er. "Und die Leute sagen, wenn wir schon fünf Leuten vorher was gegeben haben, dann können wir Ihnen nicht auch noch was geben."
Doch immer wieder kursieren wilde Geschichten in der Regenbogenpresse über Bettler, deren Tageseinnahme das übersteigt, was ein mittlerer Angestellter im gleichen Zeitraum verdient – und dann auch noch steuerfrei. Ganz unschuldig sind Bettler daran nicht, denn viele neigen dazu, ihre Situation positiver darzustellen, als sie ist.
"Ich glaube, da spielen Scham und Selbstbild eine Rolle", erklärt der Sozialarbeiter Wilhelm Nadolny. "Menschen bauen sich ja ihre eigene Realität zusammen, dass sie selber gut dastehen." Er hält die Verdienstmöglichkeiten von Bettlern dagegen für äußerst beschränkt.
"Ich glaube, es reicht gerade so zur Überlebenssicherung", sagt Nadolny. Und das sei meistens Suchtmittel einkaufen. "Als Alkoholabhängiger ist man so mit 10, 20 Euro am Tag dabei. Die Leute, die Heroin konsumieren, müssen teilweise am Tag 170 Euro erbetteln. Das schaffen Menschen wohl, aber die haben dann einen 20-Stunden-Arbeitstag."
Vivi, 28, und Danny, 26, Flaschensammler
"In Nürnberg hatte ich innerhalb von einer halben Stunde 40 Euro zusammengeschnorrt", sagt Vivi, 28. Eine hübsche, blonde Frau in Jogginghose und grauem T-Shirt, der man nicht ansieht, dass sie zurzeit auf der Straße lebt.
Anders sei es, in Berlin zu betteln: "Wenn du dich hier mal hinhockst und nach ein bisschen Kleingeld fragst, ein paar Cent oder was weiß ich, dann werden die gleich beleidigend."
Vivi lümmelt sich in der Berliner Bahnhofsmission auf einem Sessel herum und erklärt, wie man am erfolgreichsten schnorrt: "Erstmal hat man als Frau ja grundsätzlich einen Tittenbonus", sagt sie. "Dann noch eine Trauermiene aufsetzen, das macht es dann auch noch. Und wie du die Leute nach Geld fragst, das ist auch noch so ein Punkt."
Vivi ist voller Wut: Auf ihre Mutter, die sie nicht wollte, auf den Vater, der die Mutter früh verließ – und auf die Behörden, die ihr ihren Sohn weggenommen haben, weil sie sich nicht adäquat um ihn kümmern konnte.
Vor Kurzem hat sie ihren Freund Danny kennengelernt. Auch er lebt auf der Straße. Nicht zum ersten Mal: "Es gab Zeiten, da habe ich geraubt, räuberische Erpressung gemacht, hab Leute kaputtgeprügelt, hab damals alles gemacht, um an Geld zu kommen. Aber das war eine andere Zeit."
Betteln – eine erniedrigende Erfahrung
Dannys Leben, so wie er es erzählt, ist ein permanenter Wechsel zwischen drinnen und draußen, nicht nur, was das Leben in Wohnungen oder auf der Straße angeht. Mit seinen 26 Jahren war er schon dreimal im Gefängnis. Aber er hat auch eine Berufsausbildung als Maler und Lackierer. Und zwei Kinder, von denen eines bereits tot ist. Vor drei Jahren hat Danny zum ersten Mal gebettelt:
"Es war erniedrigend", erinnert er sich. "Ich hab eigentlich diesen Malerbrief in der Hose, kann was, habe eigentlich eine Familie. Ich stehe jetzt hier so. Toll. Was mach ich da jetzt? Dann hab ich eine Oma gefragt wegen Geld und habe Tränen in den Augen gehabt, weil es mir so peinlich war. Extrem."
Die angesprochen Frau reagierte aber offenbar recht positiv und lud Danny erst zum Kuchen in eine Bäckerei ein, drückte ihm danach noch 10 Euro in die Hand. "So, hier, kauf dir was, und wenn du willst, auch ein Bier", sagt Danny. "Dann hab ich mir Essen und Tabak geholt, und da stand sie noch am Bus, und dann hab ich ihr das gezeigt. Und dann geht die in diesen Döner-Laden und hat mir ein Bier gekauft."
Inzwischen bevorzugen Danny und Vivi eine andere Form des Bettelns: Sie sammeln Pfandflaschen. Danny hat das auch früher schon gemacht, am Bahnhof Südkreuz in Berlin. "Da habe ich, wenn ich Glück hatte, am Tag knapp 50 Euro gehabt", sagt er. Weil man da auch in den Zügen sammeln konnte und da offenbar einiges findet. Nicht nur Pfandflaschen: "Manchmal findest du auch ein bisschen Tabak, manchmal hast du auch ein Handy gefunden."
Geld für Tabak und Toastbrot
Allein mit Pfandflaschen 50 Euro zu verdienen, ist viel Arbeit. Selbst wenn man nur die wertvollen findet, die 25 Cent bringen, brauchte man davon 200 Stück. Zwei Müllsäcke voll, erklärt Danny. Doch das ist inzwischen nur noch mit Fleiß, Disziplin und bei größeren Events möglich wie Konzerten, Fußballspielen oder größeren Festen.
"Da musst du schon wirklich Glück haben und auch die richtigen Ecken kennen, wo du weißt, da rennt keiner so wirklich hin", erklärt Vivi. "Und dann halt auch mal in die Büsche reinkriechen, scheiß drauf, ob du dir Zecken einfängst. Hauptsache, du hast erstmal ein bisschen Geld."
Ein bisschen Geld – das heißt? "An einem normalen Tag vielleicht einen Tabakbeutel und ein bisschen Essen", sagt Danny. "Ein Tabakbeutel kostet jetzt 4,30, okay, und dann noch ein Toastbrot, das reicht zum Essen. Hat man mehr, kann man noch eine Wurst holen."
Große Konkurrenz um die Pfandflaschen
Weil inzwischen so viele Flaschensammler in Berlin unterwegs sind, kommt es immer wieder zu Konflikten um Pfandflaschen. Bei denen auch Danny mitmischt: "Ist es eine alte Dame, die vielleicht ihre Rente aufbessern will, dann okay, komm, lass sie", sagt er. "Aber kommt da so ein Besoffener oder einer, der sich was spritzen will, dann kann es schon mal dazu kommen, dass ich dem eine Schelle gebe, weil, ich tu keinem von so was Drogen finanzieren."
Er selber habe schon mal ein Messer an der Kehle gehabt, weil er offenbar an einen Abfalleimer geraten war, den ein anderer als sein Revier betrachtete, erzählt Danny.
"Zum Glück war aber die Bundespolizei gleich da." Wenn man schon auf der Straße lebt, sollte man sich eigentlich gegenseitig unterstützen, meint Vivi. Und sich wegen Pfandflaschen abstechen oder sich gegenseitig beklauen. "Was ich jetzt leider in den letzten Tagen auch schon paar mal hatte. Wurde mir erstmal das Portemonnaie geklaut und dann noch der frisch gekaufte Tabak. Sechs Euro oder was kam der?" – "6,50", sagt Danny und schüttelt den Kopf:
"Allgemein ist alles so krass und krank geworden, auch jetzt abgesehen vom Flaschensammeln. Ich hab mich jetzt in den letzten zwei Wochen mit Kumpel fast boxen müssen, weil die auf eine Frau raufwollten", sagt Danny.
"Das war mein Ziehpapa, der auf mich draufwollte im Suff", erklärt Vivi. "Aber er hat sich dann entschuldigt und okay ... Er hat so oft auf mich aufgepasst, da war Danny noch nicht dagewesen." "Man kann so besoffen sein, wie man will, man geht nicht auf eine Frau", sagt Danny.
"Rassismus ist ein großes Thema"
Es ist voll geworden auf dem "fünften Arbeitsmarkt" – und ungemütlich. Die Stimmung auf der Straße ist schlecht:
"Ist egal, was Sie denken, ich hab eine Meinung und einen Standpunkt: Ich kann eine Sorte Leute nicht leiden – nicht alle, kommt immer drauf an, wie sie zu mir sind –, und das sind Ausländer". Sagt Helga, 70, und ist damit beileibe nicht die Einzige. Sondern Sätze wie diesen hört man häufig von denen, die ganz unten sind. Denn der harte Verteilungskampf auf Berlins Straßen wird von vielen Betroffenen als ethnischer Konflikt wahrgenommen.
"Rassismus ist ein großes Thema", bestätigt die Sozialarbeiterin Anna-Sofie Gerth. "Sowohl dass sich Menschen zusammentun aus ihrem Land und dann gegen andere wettern, als auch dass deutsche Obdachlose oder deutsche Bettler sagen, die nehmen uns jetzt unser Geld weg, das uns zustehen würde." Dass das nicht richtig so sei, sei schwer zu formulieren. "Da gibt es sehr viel Unruhe und Neid und auch Verständnislosigkeit."
Das beobachtet Anna-Sofie Gerth auch in der Tagesstätte für wohnungslose Menschen, die sie leitet: "Es gibt richtig Lager. Man sieht es auch bei uns im Gastraum, an einem Tisch sitzen nur die Rumänen und am anderen nur die Polen, und beide werfen sich feindselige Blicke zu."
Hintergrund des Konflikts ist die Konkurrenzsituation. Da gilt es gegenzusteuern. "Das ist auch eines unserer Themen, dass wir sagen, ihr sitzt alle im gleichen Boot, und dass wir versuchen, eine Gemeinsamkeit zu schaffen, und wir sichern euch zu, heute darf jeder duschen und nicht erst die Rumänen und dann die Russen, sondern wer zuerst kommt, darf zuerst duschen", sagt sie.
Igor, polnischer Wanderarbeiter und Flaschensammler
Viele, die hier stranden, sind aus Ost- und Südosteuropa. Sie sind nach Berlin gekommen, weil sie glaubten, hier ihr Glück machen zu können. "Berlin ist einfach toll", sagt Anna-Sofie Gerth. "Das ist auch der Grund, warum andere Bürger nach Berlin kommen. Das ist eine große Stadt, wo man die Hoffnung hat, im Niedriglohnsektor, irgendein Hotel saubermachen oder in der Gastronomie, auch mit wenig Sprachkenntnissen etwas zu finden."
Viel zu oft klappt es nicht, weil Berlin vielleicht noch einen schlecht bezahlten Job zu bieten hat, aber keinen Wohnraum. Und dann geht es vielen schnell wie Igor, Anfang 50 und seit sechs Monaten in Berlin. Vor der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten trinkt er mit anderen Polen Bier.
"Guck mal. Meine Handy – weg. Meine Ausweis – weg", sagt Igor in gebrochenem deutsch. Er hat einen Rucksack dabei und eine große Plastiktüte, in der ein paar leere Pfandflaschen liegen. Davon lebt er derzeit. "Das ist crazy", meint er und kündigt an, sich morgen endlich um neue Ausweispapiere zu kümmern.
"In Bayern schläft keiner auf der Straße"
Bevor er nach Berlin kam, hat Igor für eine Zeitarbeitsfirma im bayerischen Kulmbach gearbeitet. Er kramt in seinem Rucksack herum: ein bisschen Kleidung, ein Kulturbeutel, ein paar lose Einwegrasierer und zwei DIN-A4-Mappen. "Guck mal", sagt er und breitet den Inhalt der Mappen auf dem Tisch aus: Eine Meldebestätigung aus Kulmbach, ein Schreiben der Krankenversicherung, das ihn für arbeitsunfähig erklärt, und Bankunterlagen.
Keine Wohnung und keine Arbeit zu haben sei eine Katastrophe, sagt Igor. Er scheint es immer noch nicht fassen zu können, dass alles so gekommen ist.
"Mein deutscher Kollege in Bayern hat gefragt: Wo gehst du hin?" Nach Berlin, habe er gesagt. "Hauptstadt. Das ist Deutschland." Berlin sei nicht Deutschland, fand der Kollege. Berlin sei Multikulti. Auch Igor findet, dass es zu viele arabische, türkische, russische, polnische Menschen, gibt, die in Berlin auf der Straße leben. In Bayern hingegen schlafe keiner auf der Straße. "Das ist Deutschland."
Mitleid als Geschäftsmodell funktioniert unterschiedlich gut
Mitleid als Geschäftsmodell? Der Sozialarbeiter Willy Nadolny hält nichts davon, das Phänomen Betteln unter diesem Aspekt zu betrachten: "Ich finde es ausdrücklich richtig, Leuten Geld zu geben auf der Straße, weil Mitleid ja so eine Konnotation hat, dass jemand auf Mitleid macht, mit Absicht seine Situation dramatisiert, damit ich ihm Geld gebe."
Dennoch kann Betteln nicht ohne die Geberseite betrachtet werden, denn der Bettelnde muss den potenziellen Geber anrühren, überzeugen oder sonst wie dazu bringen, ihm etwas zu geben. Und dabei haben nicht alle die gleichen Chancen, denn auch die Geberökonomie folgt ihren Gesetzen.
Und nach diesen Gesetzen, vermutet Anna-Sofie Gerth, verdienen deutsche Menschen am besten, "denen man abnimmt, dass sie einen schweren Schicksalsschlag hatten und die was verkaufen oder Hunde vorm Supermarkt festhalten". Also die, die eine Leistung erbringen, die ansprechbar sind und zu denen man irgendeine Art von Kontakt aufbauen kann.
Also meist der Typ Bettler, der am wenigsten unangenehm für den Gebenden ist, weil allzu viel Elend verstört:
"Es gibt Leute, die kommen in die Bahn rein und man will sofort fliehen, weil das einfach so stinkt, weil die Menschen halt Beine teilweise haben, die am Verwesen sind, und weil das nicht auszuhalten ist, selbst für Fachleute", sagt Wilhelm Nadolny von der Bahnhofsmission. "Ich bin einiges gewohnt von Arbeit, aber das sind dann auch Sachen, wo einem dann die Tränen kommen, allein schon durch den Geruch. Und wenn man dann drüber nachdenkt, dann kommen einem noch mal die Tränen."
Die Schwächsten fallen durchs Raster – auch hier
Die, die stinken und völlig verwahrlost und kaputt sind, bekämen am wenigsten, sagt Anna-Sofie Gerth. Auch, weil man sich schon als Bürger da gar nicht mehr hintraue: "Weil man denkt, oh, der wirkt so psychisch instabil oder nachher fange ich mir noch eine Krankheit ein, wenn ich dem einen Euro in die Hand drücke."
Sodass auch auf dem "fünften Arbeitsmarkt" die Schwächsten durchs Raster fallen, die über keinerlei Ressourcen mehr verfügen, sich selbst zu helfen.
"Ich gebe kaum in Berlin, weil das meine Stadt ist und ich ja mit den Menschen zusammenarbeite und es irgendwie komisch für mich wäre, wenn ich jemandem erst in der S-Bahn was gebe und eine halbe Stunde später ist der hier, steht er auf der Arbeit in der Tür", sagt Anna-Sofie Gerth. "Deswegen gebe ich oft in anderen Städten, und ich gebe tatsächlich den Menschen, die kaltschweißig, zitternd, stinkend irgendwo rumliegen und nichts mehr mitkriegen, weil ich weiß, die brauchen das, um irgendwie noch die Nacht zu überleben, um irgendwie an was ranzukommen, was noch eine kurzfristige Lösung ist."
Erstsendedatum: 6. August 2019