"Nur Zuspitzung bringt politische Diskussion in Gang"

Moderation: Matthias Hanselmann |
Für eine klare Begrifflichkeit in der Diskussion um Armut in Deutschland hat sich der Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte Paul Nolte von der FU Berlin ausgesprochen. Der von ihm 2004 in die Diskussion eingebrachte Ausdruck "Neue Unterschicht" sei durchaus angebracht und besser als "nebulöse Formulierungen" wie "bildungsferne Schichten".
Hanselmann: Jetzt interessiert uns natürlich vom Erfinder des Begriffes - na, Erfinder sind Sie vielleicht nicht, aber Sie haben den Begriff neu in die Diskussion geworfen: "neue Unterschicht". Wie stehen Sie zur aktuellen Diskussion? Was haben Sie gemeint, als Sie von dieser "neuen Unterschicht" gesprochen haben?

Nolte: Erstmal ist es natürlich überraschend, wenn so ein Begriff dann wieder an die Oberfläche kommt aus einem Anlass, den man gar nicht genau benennen kann. Denn, womit wir es hier zu tun haben, ist ja nicht ein plötzliches Auftauchen einer solchen gesellschaftlichen Formation. Die fällt nicht vom Himmel und die ist auch nicht das Ergebnis bestimmter politischer Maßnahmen wie Hartz IV. Als ich den Begriff in die Diskussion gebracht hatte, gab es die Hartz IV-Gesetzgebung noch gar nicht, wohl aber diese "neue Unterschicht". Und ich finde es schon richtig, dass wir auch darüber diskutieren. Auch damals, vor einigen Jahren, habe ich schon Wert darauf gelegt, dass wir uns abgewöhnen, über unsere gesellschaftlichen Verhältnisse in so nebulösen Formulierungen oder überhaupt nicht zu sprechen. Also auch diese Abwehrgeste jetzt von Franz Müntefering kann ich gar nicht verstehen. Oder wir sprechen dann auch - das ist ja so ein bisschen ein neuer Euphemismus, eine neue Beschönigung - von den bildungsfernen Schichten. Früher waren es am anderen Ende der Gesellschaft die Besserverdienenden oder - noch schlimmer - die Leistungsbereiten. Also, da sollte man auch Butter bei de Fische tun und wissen, worüber man spricht. Deshalb: Klarheit in der Begrifflichkeit. Und ich finde diese Debatte, auch wenn sie diese Woche natürlich ein bisschen überdreht und hysterisch dann inzwischen hochkocht, aber ich finde diese Debatte wichtig.

Hanselmann: Genau das wollte ich Sie sowieso fragen. Es schwirren ja alle möglichen Begriffe durch die Diskussion. Arbeitsminister Müntefering sagt, es gibt keine Ober- und Unterschichten. Wolfgang Thierse, Bundestagsvize meint, wir leben in einer Klassengesellschaft. Dann ist die Rede von Subproletariat, das nun nicht mehr ganz modern, von Milieu, den kleinen Leuten, den sozial schwachen Schichten oder vom eben zitierten Prekariat. Welche Begriffe sind denn Ihrer Meinung nach überhaupt anwendbar?

Nolte: Wir haben es mit einer Situation eben zu tun, die unübersichtlicher geworden ist, als das früher der Fall gewesen ist. Aber vielleicht haben wir uns auch früher, in den Zeiten der klassischen Industriegesellschaft, als die klassische Industriegesellschaft auch eine industrielle Klassengesellschaft gewesen ist mit Bürgertum und Proletariat, und in dieser Zweiteilung, in dieser klaren Dichotomie, vielleicht haben wir uns damals auch die Verhältnisse zu einfach gemacht. Auch damals gab es zum Beispiel schon Einwanderer oder vielfach zerklüftete Unterschichten. Man hat in der klassischen Industriegesellschaft zum Beispiel viel zu lange auf die Industriearbeiter geschaut, weil die sich auch dann politisch organisiert haben in der Arbeiterbewegung. Und ein Prekariat von damals, zum Beispiel in der Landarbeiterschaft, in der ländlichen Bevölkerung, ist fast völlig auch damals der öffentlichen Aufmerksamkeit entgangen. Also, die Situation ist komplizierter geworden, und wir schauen auch genauer hin und haben es mit vielfältigen Risikolagen zu tun. Da sind die ökonomischen Verwerfungen, die teilweise neu sind in diesem Übergang aus der klassischen Industriegesellschaft heraus, plus Globalisierung. Da sind auch individuelle Risikolagen, die dazu kommen. Die Erosion der klassischen zusammenhängenden Kleinfamilie als eigentlich sozusagen der Erfinder der neuen Armut in der Mitte der 70er Jahre. Das waren ja Reiner Geißler und andere, die haben genau an diese Konstellation zum Beispiel gedacht. Allein erziehende junge Mütter, die dann nicht mehr oder nur noch teilweise arbeiten gehen. Migration, eine dritte Verwerfung, die da mit hineinspielt. Und deswegen tun wir uns so schwer mit den Begriffen. Ich glaube, der "Milieu"-Begriff, der war in den Sozialwissenschaften eine Zeit lang mal sehr populär, in den 80er Jahren. Der ist mir ein bisschen zu diffus. Also, oben, Mitte, unten, das hat sich im Großen und Ganzen bewährt, davon sprechen übrigens auch die anderen Länder unbefangener als wir das tun. In Frankreich, England, Amerika ist diese Begrifflichkeit auch durchaus üblich.

Hanselmann: Und der Begriff "neue Unterschicht", mit dem wir eingestiegen sind in unser Gespräch? Ist der denn überhaupt noch tragfähig, kann man den überhaupt noch verwenden? Er pauschalisiert doch!

Nolte: Ja, aber er fasst auch zusammen, er bringt auf den Punkt, wenn ich jetzt das, was da vor uns liegt in viele verschiedene Milieus aufteile, was ich natürlich auch tun könnte, dann ist eben auch die Zuspitzung weg. Gut, als Wissenschaftler hat man da manchmal auch Unbehagen angesichts der Zuspitzung. Aber nur Zuspitzung bringt auch eine politische Diskussion in Gang und die brauchen wir offenbar, um irgendetwas zu verändern. Dann müssen wir auch wieder genauer hinschauen natürlich und unterscheiden, worum handelt es sich denn. Wir haben es mit einer ostdeutschen Sondersituation zu tun. Die Studie der Ebert-Stiftung sagt ja zum Beispiel in Westdeutschland, vier Prozent ist da die Ziffer, die sie für dieses Prekariat nennt. Da müsste man im Grunde sagen, vier Prozent, das kann eine Gesellschaft verkraften. Das ist nicht so furchtbar viel. Ich wäre da vielleicht für Teile Westdeutschlands sogar pessimistischer, würde diese Zahl höher ansetzen. Wir müssen Migrationsrisikolagen unterscheiden. Aber ich glaube, es kann sinnvoll sein, und vieles dieser Risikosituationen, viele dieser Lagen überlappen sich auch so, dass man diesen pointierten Begriff durchaus verwenden kann.

Hanselmann: Herr Nolte, die "Frankfurter Allgemeine" stellt die These auf, dass nur diejenigen von einer "Unterschicht" reden, die Angst haben, selbst in diese hineinzugeraten, sich mit dem Begriff "Unterschicht" also versuchen, nach unten abzugrenzen. Ist das Unterschichts- also eher ein Mittelschichtsproblem?

Nolte: Also, das kann schon deshalb gar nicht sein, weil von "Unterschicht" ja hauptsächlich im Moment Politiker, Wissenschaftler, Journalisten reden, die, sagen wir es doch mal so, über wohl etablierte Positionen verfügen. Das sind schon Leute, die sich versuchen, einen Kopf zu machen, das sollte man schon ernst nehmen, über die Probleme, die wir da haben. Ich glaube, dass der Mehrheit der Gesellschaft - das mag man ja gerade beklagen - in den unteren Mittelschichten bei angestellten Arbeitern, die vielleicht auch mit Arbeitsplatzverlust zu rechnen haben, dass dort die Sensibilität für dieses Problem, jedenfalls für eine solche Begrifflichkeit, nicht sehr groß ist. Aber es stimmt, wir haben eine neue Risikolage auch in den Mittelschichten. Darauf wollte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wohl hinweisen. Da gibt es eine neue Diskussion auch in Deutschland über die Gefährdung der Mittelschichten. Wir wissen, dass auch Bürojobs bedroht sind. Es gibt nicht diesen einfachen Zug, wie wir mal vor etlichen Jahren geglaubt hatten, dass industrielle Arbeitsplätze vielleicht wegbrechen, aber Dienstleistungsarbeitsplätze, Büroarbeitsplätze sicher sind. Auch die Mitte wird gefährdeter. Aber bitte, meine Position wäre, keine Panik! Die wirklich Gefährdeten sind nicht die mit den Hochschulabschlüssen. Das kann man auch leicht übertreiben. Da haben wir nach wir vor und zum Glück eine sehr geringe Arbeitslosigkeit. Also Bildung, gute Qualifikation schützt ganz definitiv vor dem Abrutschen in dieses Prekariat.

Hanselmann: Und Taxi fahrende Lehrer hatten wir auch schon früher.

Nolte: … hatten wir auch schon früher. Also diese Mischzonen gab es auch schon immer. Das ist klar.

Hanselmann: Stimmen Sie der jetzt wieder häufig gemachten Einteilung unserer Gesellschaft in Drittel zu? Also ein Drittel, das komplett abgehängt ist und nichts mehr zu erwarten hat, ein Drittel, das kämpfen muss, um den Erhalt seines Status zu sichern, und dann das Drittel, das in Saus und Braus lebt und nichts zu befürchten hat?

Nolte: Also die Drittel sind ja da wohl nicht so sehr mathematische oder arithmetische Drittel. Als solche würde ich die jedenfalls nicht akzeptieren, sondern das ist ja auch eine bildliche, eine metaphorische Sprache, bei der man sich dann so einen Kuchen so in ungefährer Form vorstellt. Dafür ist das hilfreich. Sonst würde ich sagen, ja, also in Ostdeutschland; 25 Prozent ist ja die Ziffer, also ein Viertel, die die Ebert-Stiftung für Ostdeutschland nennt, da trifft das, was das untere Segment angeht, annäherungsweise zu. Aber dort gibt es wiederum kein ganzes Drittel, kein arithmetisches Drittel, das in Saus und Braus lebt. In Westdeutschland ist diese prekäre Schicht, ist diese "Unterschicht" definitiv kleiner als ein Drittel der Gesellschaft. Auch dort haben wir große regionale Unterschiede zwischen Norddeutschland, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und den süddeutschen Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg. Dort haben wir nach wie vor eine Mehrheit der Gesellschaft, mehr als 50 Prozent, die in relativ sicheren, auskömmlichen, nicht gefährdeten Verhältnissen lebt. Dort haben wir nach wir vor eine starke Mittelschichtsgesellschaft eigentlich, und das ist auch wichtig, dass wir uns darauf besinnen und nicht - ich glaube Norbert Röttgen hat letztlich von der Angststarre gesprochen - dass wir tatsächlich nicht in diese Angststarre verfallen, dass wir nun handlungsunfähig werden, weil wir meinen, übermorgen würden wir alle auch nur noch von der Hand in den Mund leben. Das ist nicht so.

Hanselmann: Herr Nolte, wenn es kurz zu beantworten ist, dann bitte kurze Antwort auf folgende Frage: Schwer unter Beschuss ist ja in dieser neuen Diskussion wieder das Reformpaket von Ex-Bundeskanzler Schröder. Hartz IV soll mit Schuld sein an gestiegener Armut, sagt CDU-Generalsektretär Pofalla, sagen aber auch SPD-Parteilinke. Ist da was dran?

Nolte: Also da ist nach meinem Eindruck wenig dran. Hartz IV hat Aufmerksamkeit mobilisiert. Deswegen ist das Problem jetzt auf dem Tisch. Hartz IV hat umgeschichtet, hat einige besser gestellt, einige auch schlechter gestellt, aber ist nicht die Ursache dieses Problems. Die "neue Unterschicht", die neuen Risikolagen sind viel älter, gehen auf jeden Fall in die 70er, 80er Jahre zurück.

Hanselmann: Vielen Dank. Abgehängtes Prekariat oder "neue Unterschicht". Zur neuen Diskussion um Armut und Ausgrenzung war das Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Danke schön, Herr Nolte!
Mehr zum Thema