Nukleare Waffen

Tickende Zeitbomben

Von Sylke Tempel · 12.01.2014
Ein umfassendes Kompendium der Atomrüstung hat Eric Schlosser vorgelegt. Minutiös und hochspannend schildert er nukleare Beinahe-Katastrophen aufgrund von Zwischenfällen - und zeigt auch heute noch vorhandene Gefahren auf.
Der Kontrollgang war nichts weiter als Routine. An einem frühen Donnerstagabend im September 1980 betraten zwei Luftwaffen-Soldaten das Raketensilo der Abschussanlage 374-7 nördlich eines Dorfes mit dem schönen Namen Damascus im US-Bundesstaat Arkansas. Der ranghohe Flieger David Powell war zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre lang für das Treibstoffsystem von Raketen zuständig. Der erst 19-jährige Jeffrey Plumb hingegen war das, was man heute wohl einen Auszubildenden nennen würde.
"Vor ihnen lagen routinemäßige Wartungsarbeiten. Aber wie oft sie auch in das Silo kamen, die Titan II war immer wieder beeindruckend. Sie war die größte ballistische Interkontinentalrakete, die die Vereinigten Staaten je gebaut hatten, ihr Durchmesser betrug gut drei Meter, und sie war mehr als 31 Meter hoch, so hoch wie ein neunstöckiges Gebäude."
Bestückt war die Titan II mit einem thermonuklearen Sprengkopf. Dessen Sprengkraft betrug neun Megatonnen und damit beinahe die dreifache Zerstörungskraft aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben zusammen – einschließlich der beiden von den USA über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben. Die Titan II im Silo war gefechtsbereit und konnte binnen einer Minute gezündet werden.
Dann fiel dem erfahrenen Senior Airman Powell beim Routinecheck ein Steckschlüssel aus der Hand, in mehr als 20 Metern Höhe.
"Er schlug auf die Plattform auf und prallte zurück. Powell versuchte, nach ihm zu greifen, erwischte ihn aber nicht. Plumb beobachtete, wie der vier Kilo schwere Steckschlüsseleinsatz durch den schmalen Spalt zwischen Plattform und Rakete rund 21 Meter in die Tiefe fiel, das Schubgerüst traf und dann von der Titan II abprallte. Im nächsten Moment spritzte Brennstoff aus der Rakete wie Wasser aus einem Gartenschlauch. Oh Mann, dachte Plumb. Das ist nicht gut."
Würde erst genügend Oxidationsflüssigkeit austreten, der Druck sinken, das restliche Oxidationsmittel mit dem Zündstoff in Kontakt treten – würde also die chemische Kettenreaktion beginnen – dann wäre die gewaltige Explosion nicht mehr zu verhindern.
Und dass es beinahe dazu kam, dafür sorgte eine Kette von menschlichen Fehlern in Kombination mit einem überkomplexen System:
"Die Offiziere und Techniker im Kontrollzentrum konnten nicht feststellen, was im Silo vor sich ging, Warnungen waren ignoriert, unnötige Risiken in Kauf genommen und die Arbeiten schlampig ausgeführt worden. Außerdem wurden wichtige Entscheidungen von einem Offizier getroffen, der sich mehr als 800 Kilometer entfernt befand."
Dem Mut und der Besonnenheit einiger Männer in der Abschussanlage 374-7 ist zu verdanken, dass an diesem 18. September 1980 die nukleare Katastrophe ausblieb – und dass fast niemand jemals davon erfuhr.
Genauso wie von den hunderten anderer Zwischenfälle, die zu einer nuklearen Apokalypse hätten führen können.
1960 meldet ein nordamerikanisches Verteidigungssystem eine nukleare Attacke der Sowjetunion – weil ein Warnsystem den aufgehenden Mond mit einer Rakete verwechselt hatte. 1979 wurde wieder ein atomarer Angriff gemeldet.
"Als auf den Computerbildschirmen immer mehr sowjetische Raketen auftauchten, wurde eine Threat Assessment Conference einberufen. Das Angriffsmuster stimmte zwar mit den vom Pentagon angenommenen sowjetischen Kriegsplänen überein, doch der Zeitpunkt war seltsam. Es gab keine außergewöhnlichen Spannungen zwischen den Supermächten. Vorsichtshalber wurde auf allen Strategic Air Command-Stützpunkten Alarm ausgelöst. Bomberbesatzungen rannten zu ihren Flugzeugen. Fluglotsen im gesamten Land machten sich zur Räumung des gesamten amerikanischen Luftraums bereit."
Wenige Minuten nach dem Großalarm stellte sich heraus, dass ein Techniker versehentlich die Daten eines Übungsprogramms geladen hatte, die Daten einer Simulation.
Bomben: sicher gelagert und gleichzeitig abschussbereit
Da man seit den 50er-Jahren nicht mehr Flugzeuge, sondern Raketen mit Atomsprengköpfen bestückte, hätte es beim vermeintlichen Gegenschlag kein Zurück mehr gegeben.
Eric Schlosser rekonstruiert diese nuklearen Beinahe-Katastrophen minutiös. Er beschreibt die Entwicklung der Atomwaffen, er schildert die Auswirkungen ihres Einsatzes in Nagasaki und Hiroshima und das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion. Und er erklärt das Prinzip von Command and Control: das Kommando- und Kontrollsystem, das die Bomben gleichzeitig sicher lagern und innerhalb von Minuten abschussbereit halten sollte.
Dieses Prinzip hat die Wahrscheinlichkeit eines gewollten Kriegs durchaus verringert. Aber das Risiko eines unbeabsichtigten Krieges erhöhte sich: Weil die Computer der Warnsysteme störanfällig sind. Weil den beteiligten Menschen beständig Missgeschicke und Fehlurteile unterlaufen. Und weil die Programme und ihre Störanfälligkeit streng geheim gehalten wurden:
"Zu viel Geheimhaltung gefährdete die nationale Sicherheit oft mehr als Enthüllungen über das amerikanische Atomwaffenarsenal. Eine detaillierte Geschichte der sowjetischen Atomunfälle wurde nie veröffentlicht. Dass es keine freie Presse gab, trug sicherlich zu den zahlreichen schweren Unfällen in Industrieanlagen und zu der verheerenden Umweltzerstörung der Ostblockstaaten bei."
Cover: Eric Schlosser "Command and Control"
Cover: Eric Schlosser "Command and Control"© C.H. Beck Verlag
Eric Schlosser hat mit "Command and Control" ein umfassendes Kompendium der Atomrüstung vorgelegt, das auf jahrelangen peniblen Recherchen und hunderten Gesprächen basiert. Allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst fünfzig Seiten. Das ist allerdings auch der problematische Teil dieses Atom-Thrillers. Schlosser verliert sich zuweilen in Einzelheiten, die für das Verständnis der Geschichte nicht wichtig sind und eher stören.
Dennoch ist "Command and Control" ein wichtiges Buch – weil der Kalte Krieg eben nicht vorbei ist. In den USA lagern bis heute 7500 Atomsprengköpfe, mehr als 2000 davon sind gefechtsbereit. Und in Russland lagern geschätzte 8500 teils veraltete Systeme; in China etwa 250; in Frankreich und Großbritannien über 500; in Indien und Pakistan, das die strategische Option sogar eines Erstschlags in seiner Sicherheitsdoktrin verankert hat, jeweils über hundert Sprengköpfe; Israel besitzt etwa 80.
Das sind weltweit mehr als 17.000 nukleare Sprengköpfe. Die Titan II mit ihrem Sprengsatz wurde inzwischen ausgemustert. Jeder einzelne andere aber ist eine tickende Zeitbombe.

Eric Schlosser: Command and Control. Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit. Eine wahre Geschichte
C.H. Beck Verlag, München 2013
540 Seiten, 24,95 Euro