NSU-Selbstenttarnung

Vor 10 Jahren wird rechtsextremer Terror offenbar

04:31 Minuten
Nelken liegen auf dem Gedenkstein für die NSU-Opfer auf dem Halitplatz in Kassel.
Gedenkstein für die Opfer des rechtsextremen NSU: Plötzlich trat ein, was angeblich völlig unmöglich war, erinnert sich Annette Ramelsberger an den November 2011. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Ein Einwurf von Annette Ramelsberger · 04.11.2021
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Zwei tote Neonazis im ausgebrannten Wohnmobil, eine Komplizin stellt sich kurz darauf. Die Aufdeckung der Terrorgruppe NSU ist genau 10 Jahre her. Die "SZ"-Journalistin Annette Ramelsberger verlor damals einen Teil ihres Grundvertrauens in den Staat.
Manche Ereignisse sind so einschneidend, dass man nie mehr vergisst, wo man von ihnen erfahren hat. Der Anschlag auf das World Trade Center zum Beispiel oder die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Bei mir war so ein Ereignis die Enttarnung des rechtsradikalen Nationalsozialistischen Untergrunds kurz NSU.
Jahrelang war ich für die "Süddeutsche Zeitung" in Berlin Expertin für Innere Sicherheit gewesen, hatte mit Innenministern, BND- und Verfassungsschutzpräsidenten Kontakt. Es ging immer wieder um die Gefahr von rechts. Wir Journalisten stellten in diesen vertraulichen Runden oft die Frage: "Gibt es eine braune RAF?"
Und immer wieder bekamen wir die Antwort: "Ach, die Rechten sind zu dumm, sie haben keinen Anführer und wenn sich da was zusammenbraut – dann käme das ganz schnell ans Licht." Denn die rechte Szene war durchsetzt von V-Männern und der Verfassungsschutz war sich sehr sicher.

Sicherheitskräfte sahen keine Gefahr für rechten Terror

Und da saß ich nun in jener Novemberwoche 2011 weit ab von Berlin, in einem Forsthaus im Schwarzwald, und plötzlich trat alles ein, was angeblich völlig unmöglich war: Eine Mörderbande namens NSU hatte menschenverachtende Bekennervideos verschickt.
Sie bekannte sich nicht nur zu den ungeklärten Morden an neun Männern mit türkischen und griechischen Wurzeln, die unter dem unsäglichen Namen "Döner-Morde" liefen. Dieser NSU bekannte sich auch zum unerklärlichen Mord an einer Polizistin in Heilbronn, bei dem die Ermittler jahrelang einem Phantom hinterhergelaufen waren. Und der NSU sollte auch noch verantwortlich sein für den Anschlag in der Kölner Keupstraße, der eine ganze Stadt erschüttert hatte.
Mir kam es vor, als habe man den Schlüssel zu allen ungelösten Mord- und Bombenanschlägen der letzten Jahre gefunden. Ich konnte es kaum glauben.
Was dann bekannt wurde, war noch viel unglaublicher. Braune Seilschaften, die den drei Terroristen Wohnungen, Geld, Ausweise verschafft hatten. Verfassungsschützer, die Informationen zurückhielten und Dossiers schredderten. Fehler, die den Verdacht aufdrängen, dass da Terroristen geschützt, statt verfolgt wurden.

Bleibende Zweifel: Wie gefestigt ist unsere Demokratie?

Und meine Kollegen und ich, die wir so nah an Polizei und Geheimdiensten dran gewesen waren, erlebten eine Vertrauenskrise: Wenn diese Fachleute eine solche Mordserie nicht einordnen konnten, wenn sie statt in der rechten Szene nur in den Familien der Opfer nach den Tätern suchten – was entgeht ihnen dann noch alles? Was entgeht uns dann noch alles? Ist das Bild, das wir von Deutschland haben, das einer gefestigten Demokratie, überhaupt das wahre Bild?
Ich habe in den Jahren danach oft an diesen Moment im Schwarzwald denken müssen, als sich mitten in der Idylle der Abgrund auftat. Mein Vertrauen in die Sicherheitskräfte hat damals einen Knacks bekommen.
Es hat mich dann später nicht mehr wirklich gewundert, dass die Polizei jedes Mal völlig überrascht war, dass sich wieder gewalttätige rechte Demonstranten auf Corona-Demos versammeln. Dass die Polizei nicht damit rechnete, dass ein Rechtsextremist die Synagoge von Halle angreift und sich auch nicht vorstellen konnte, dass ein Neonazi den hessischen Kommunalpolitiker Walter Lübcke erschießt. Als käme das alles aus dem Nichts.

NSU-Prozess: Zeugen, denen die Morde egal waren

Man hätte aber nicht überrascht sein müssen, nicht, wenn man den NSU-Prozess miterlebt hat. Tagelang traten im Prozess Zeugen aus der rechten Szene auf, denen die Morde völlig egal waren, und die gleichzeitig erklärten, sie seien politisch ganz normal, "so wie alle". Erschrecken über die Morde? Nein, kaum verhohlene Zustimmung.
Hier zeigte sich das Potenzial, das heute den Sturm auf den Reichstag versucht. Spätestens da konnte man sehen, was sich zusammenbraute. Aber viele wollen es einfach nicht wahrhaben.

Annette Ramelsberger ist seit 2011 Gerichtsreporterin der "Süddeutschen Zeitung" und berichtet über bundesweit bedeutende Verfahren. Fünf Jahre lang begleitete sie den NSU-Prozess. Für die "SZ" arbeitete sie als politische Reporterin und Ressortleiterin in Berlin und München, berichtete über Innere Sicherheit und die CSU. Ramelsberger wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Nannen-Preis geehrt und war zweimal Journalistin des Jahres.

Annette Ramelsberger posiert in der ARD-Talkshow "Anne Will" für ein Pressefoto.
© picture alliance / Eventpress Stauffenberg
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