Erinnerung an NS-Zwangsarbeit

"Vergangenheit ist überall"

10:21 Minuten
In einer Baracke des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers München Neuaubing (Bayern) hängt eine Kette von der Decke.
Baracke im ehemaligen Zwangsarbeiterlager Neuaubing: Ohne die Ausbeutung der Zwangsarbeiter hätte das NS-Regime keinen Krieg führen können. © picture alliance / dpa / Amelie Geiger
Von Burkhard Schäfers · 19.10.2022
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1942 wurde in München-Neuaubing ein Lager für bis zu tausend Zwangsarbeiter errichtet. Nach dem Krieg verwilderte das Gelände, Künstler nutzten die Baracken als Ateliers. Nun soll hier ein Erinnerungsort entstehen. Dennoch können die Künstler bleiben.
Nackte Ziegelwände, kalter, rissiger Betonboden, in der Mitte ein langer Gang, von hier gehen die einzelnen Räume ab. Acht dieser lang gezogenen, eingeschossigen Baracken mit flachen Satteldächern stehen auf dem Gelände. Dazwischen wuchern Bäume, Gestrüpp, hohes Gras. Vor 80 Jahren, 1942, wurde dieses Lager im Münchner Stadtteil Neuaubing hastig gebaut, um bis zu tausend Menschen unterzubringen.
Sie mussten in den nahen Dornier-Werken und im Reichsbahn-Ausbesserungswerk arbeiten, von morgens um acht bis abends um acht, sechs Tage die Woche. Manche waren auch noch sonntags in den Privathaushalten der Deutschen beschäftigt. Wenn sie Glück hatten, gab es dort wenigstens etwas Anständiges zu essen.
In den Neuaubinger Baracken lebten überwiegend zivile Zwangsarbeiter und auch einige Kriegsgefangene, vor allem aus der Sowjetunion, aus Polen, Italien, Frankreich und den Niederlanden. Während der NS-Zeit gab es Historikern zufolge mehr als 25 Millionen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen.

Zwangsarbeit als Kriegsmotor

Die meisten kamen aus Osteuropa. Gegen Ende des Krieges machten sie mehr als ein Drittel der Beschäftigten in deutschen Unternehmen aus. Zwangsarbeit hatte eine große wirtschaftliche Bedeutung, sagt der Historiker Paul-Moritz Rabe:

Der Zweite Weltkrieg hätte ohne den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern spätestens 1942 beendet werden müssen, weil schlicht und einfach die Versorgungslage zusammengebrochen und der Krieg wirtschaftlich nicht mehr weiterzuführen gewesen wäre.

Historiker Paul-Moritz Rabe

Enge, Krach, Angstschweiß und Erschöpfung sind lange vergangen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg verwilderte das Grundstück in München, seine Geschichte geriet in Vergessenheit.

Ein Ort für Kunstschaffende

Bis in die 70er-Jahre wohnten Lehrlinge der Bundesbahn hier. Später wurden einzelne Häuser vermietet, andere standen leer. Graffitis an den Wänden zeugen von illegalen Partys. Heute stehen Skulpturen zwischen den Baracken.
Ein paar Schritte weiter lagern Holz und verwitterte Steinblöcke. Auf dem Kiesweg hat jemand eine Staffelei aufgebaut. An einem kleinen Tisch sitzen zwei Frauen und zwei Männer mittleren Alters, sie trinken Tee. Susanne Musfeldt-Gohm erklärt:
„Die FAUWE, die Freien Ateliers Und Werkstätten Ehrenbürgstraße, ist ein Zusammenschluss von Kunsthandwerkern, Handwerkern und Bildenden Künstlern. Wenn man hier arbeitet, wird man immer wieder erinnert, welche Geschichte die Gebäude haben.“
Susanne Musfeldt-Gohm ist die zweite Vorsitzende des Vereins, der sich vor 15 Jahren gründete. Dass die Baracken heute noch stehen, hat auch mit denen zu tun, die hier arbeiten.
Die meisten der 30.000 Zwangsarbeiterlager in Deutschland verschwanden bald nach dem Krieg. In Neuaubing aber zogen irgendwann Künstlerinnen und Künstler ein. Hier konnten sie malen, töpfern, Musik machen, ohne den Nachbarn in die Quere zu geraten.
Eine Baracke wurde zum Kindergarten, eine andere zur Jugendfarm. Eine gute Portion Sozialromantik überlagerte die einstmaligen Schrecken.
Aber: Die vorübergehende Ruhe war dahin, als erste Ideen aufkamen, aus dem Grundstück einen Gedenkort an die NS-Zwangsarbeit zu machen. Auf einmal waren die Künstler im Weg: „Damals war für uns ziemlich klar, es ist nicht sicher, ob wir hierbleiben können.“
Sebastian Kriesel, CSU-Politiker und Vorsitzender des Bezirksausschusses, war dabei, als die Geschichte des Lagers nach und nach wieder an die Öffentlichkeit kam und schließlich die Entscheidung fiel, in Neuaubing einen Erinnerungsort zu eröffnen. Einige der Kunstschaffenden seien anfangs dagegen gewesen. Sie befürchteten das Ende ihrer Ateliers:
„Unser großes Pfund ist gewesen, dass wir den Künstlerinnen und Künstlern, dem Kindergarten und der Kinder- und Jugendfarm sagen konnten: Wir wollen euch mit dabei haben. Das ist nicht der normale Ablauf, das geht bei anderen Gedenkstätten normalerweise einen anderen Weg. Aber hier wollten wir ein Miteinander. Die Menschen, die diesen Ort mit am Leben erhalten haben, die gehören mit zu der Geschichte dazu.“ 

Es ist Zeit für neue Museumskonzepte

Und so soll in Neuaubing ein deutschlandweit wohl einmaliger Ort der Erinnerung entstehen: Eine „Koexistenz“ von Alltagsleben und Museum nennt es Paul-Moritz Rabe vom Münchner NS-Dokumentationszentrum, der das Projekt leitet.
Der Historiker hält das für ein wegweisendes Modellprojekt: „Die Erinnerungskultur neigte in den letzten 20, 30 Jahren dazu, ein Stück weit Erinnerungsorte zu schaffen, die auch eine sakrale Aufladung bekommen. Gerade für die Konzentrationslager ist das der Fall. Das hing damit zusammen, dass ein Zielpublikum dieser Orte die Überlebenden oder die Angehörigen waren. Wir befinden uns jetzt in einer Phase der Erinnerungskultur, wo das Ende der Zeitzeugenschaft im Grunde da ist. Es gibt kaum noch Überlebende aus der NS-Zeit, sodass sich auch Erinnerungsorte wandeln müssen."
Es gab Kontroversen darüber, wie der Ort künftig aussehen soll: Nicht länger ein verwildertes Idyll, aber auch keine Rekonstruktion von 1945. Der Architektenentwurf sieht vor, dass in zwei Baracken die Geschichte dargestellt werden soll – mit Objekten wie Lagerausweisen, Koffern und Plaketten. Und mit Räumen, in denen Schulklassen museumspädagogisch arbeiten können.

Spagat zwischen Erinnerung und Alltag

Das Gestrüpp soll gelichtet werden, der Ausstellungsbereich über Holzstege mit den Ateliers verbunden werden. So ruhig und zurückgezogen wie bisher können die Künstlerinnen und Künstler dann nicht mehr arbeiten. Trotzdem seien sie zufrieden, weil sie bei der Planung immer wieder informiert und gefragt würden, sagt Susanne Musfeldt-Gohm. Allerdings:
„Ich glaube, da wird's noch ein bisschen im Gebälk knirschen. Ich denke, dass der Entwurf nicht zu hundert Prozent umgesetzt werden wird, und sicherlich wird die eine oder andere Kröte noch zu schlucken sein.“ 
Was das Projekt kostet, ist noch unklar, weil zurzeit die Bausubstanz der Baracken untersucht wird. Die Eröffnung ist für 2025 geplant. Bleiben wird der Spagat zwischen angemessener Erinnerung und Alltag. Letztlich aber sei das nicht allein in Neuaubing ein Thema, sagt der Historiker Paul-Moritz Rabe:
„Vergangenheit ist überall. Spuren der Geschichte – und das zeigt gerade die Geschichte der Zwangsarbeit – sind allgegenwärtig. Fast jeder Betrieb profitierte von der Zwangsarbeit. Im Grunde ist es egal, wo man hinschaut, man findet diese Spuren, und trotzdem findet dort Leben statt.“
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