Westdeutsche Kunstszene nach 1945

Neubeginn mit Altlasten

30:03 Minuten
Abstraktes Bild von Willi Baumeister: Bunte Formen auf weißem Grund.
Abstrakt und modern sollte die Kunst der Nachkriegsjahre in Westdeutschland sein, nichts sollte auf den Krieg und Holocaust verweisen: Bild von Willi Baumeister. © imago / biky
Von Natalie Kreisz · 20.04.2022
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Nach 1945 bestanden NS-Netzwerke auch in der Kunstszene weiter. Sie spielten bei der Entwicklung des neuen Kunstkanons, der unser Bild der Moderne bis heute prägt, eine entscheidende Rolle.
Darmstadt 1950: Noch prägen bizarre Ruinen, ausgezehrte Menschen und Kochtöpfe aus ehemaligen Stahlhelmen den deutschen Nachkriegsalltag. Politisch führte der Ost-Westkonflikt im Jahr zuvor zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.
Die ideologischen Konfrontationen prägen auch die Kultur. Die angeblich freie Kunst wird auch im Westen stärker für politische Zwecke instrumentalisiert, als das bisher wahrgenommen wurde.
„Meine Damen und Herren, ich möchte einmal darauf zu sprechen kommen, was denn eigentlich mit der Vielschichtigkeit des Kunstwerkes wird, wenn diese Richtung in die gegenstandslose Kunst, deren zentraler Wert in den Formen und in der Formensprache und in den Wirkungen, die von dieser Formensprache ausgehen, wenn diese Richtung herrscht – oder, damit wir vom Herrschen nicht reden, jedenfalls wenn sie vorhanden ist.“ Der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers bemühte sich beim 1. Darmstädter Gespräch 1950 um sprachliche Ausgewogenheit.
Sein Fauxpas – vom Herrschen wolle er nicht reden – deutet an, was die Debatten in der Kultur damals geprägt hat: Es ging vordergründig um die Durchsetzung der abstrakten Kunst als dominierende Formensprache. In dem Streit um die Rehabilitation der unter den Nationalsozialisten verfemten Moderne gab es jedoch sehr unterschiedliche Positionen.

Keine moderne Kunst in deutschen Museen

„Man muss sich vorstellen: 1945 war keine moderne Kunst, in keinem Deutschen Museum überhaupt zu sehen gewesen seit zwölf Jahre, und auch davor war ja nicht so sonderlich viel moderne Kunst da“, sagt Julia Friedrich. Sie ist Kunsthistorikerin und Sammlungsdirektorin im Jüdischen Museum Berlin.
„Die Museen hatten das natürlich schon gesammelt.“ Aber es habe ein starkes anti-modernes Ressentiment im deutschen Bürgertum gegeben. „Darauf konnten die Nazis aufbauen, und das war ja dann auch 1945 nicht einfach weg. Aber man hat dann schnell wieder angefangen, die Sammlungen aufzubauen.“
„Die Nachkriegskunstgeschichte, wie wir sie gelernt haben, wie wir sie uns angewöhnt haben – im Kern ist sie schöngemacht und glattgebügelt“, sagt Christian Fuhrmeister, Kunsthistoriker am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München. „Alle Verwerfungen, die es damals gegeben hat, sind von der Forschung und von der Kunstgeschichtsschreibung nicht in adäquater Weise zur Kenntnis genommen worden.“

Glattgebügelte Kunstgeschichte

Im Zentrum der Debatte nach 1945 standen auf der einen Seite Künstler wie Willi Baumeister, der für seine abstrakten Kompositionen bekannt ist und 1947 sein Buch „Das Unbekannte in der Kunst“ veröffentlichte. Auf der anderen Seite stand der konservative Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der 1948 seine Kulturkritik veröffentlichte: „Verlust der Mitte“.
Anhand einzelner Kunstwerke diagnostizierte er eine krankhafte Entwicklung der modernen Gesellschaft, deren Kulminationspunkt die moderne Kunst der 1920er-Jahre symbolisiere. Der Abfall der Kunst beziehungsweise des Menschen von der göttlichen Ordnung führe zu Chaos und Verfall. Sedlmayr schrieb das Konzept fort, mit dem die Nazis Kunstwerke der Vorkriegsmoderne verfemten.  
Zwischen diesen Extremen diskutierten 1950 beim 1. Darmstädter Gespräch Künstler, Kunsthistorikerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen über „das Menschenbild in unserer Zeit“. Die Sehnsucht nach Erneuerung und Harmonie dominierte die hitzigen Debatten.
Allein Theodor W. Adorno vertrat öffentlich die Meinung, dass gerade die Disharmonie in der Kunst den Riss, das Versagen der Kultur deutlich mache. „In einem gewissen Sinn sind die Werke, möchte ich es paradox ausdrücken, heute umso vollkommener, je mehr sie dies Maß an Unvollkommenheit, das heißt, diesen Verzicht auf jede Art der scheinhaften Geschlossenheit auf sich nehmen“, betonte er. „Während all das, was glaubt, an jener Harmonie festhalten zu dürfen, problematisch ist.“

Verzerrter kunstgeschichtlicher Blick

„Das muss man sich immer klarmachen: Wenn man in Deutschland heute in ein Museum geht und dort die deutsche Moderne – ist ja sehr viel deutsche Moderne ausgestellt –  sieht, dann suggeriert das zwar eine Kontinuität von den 20er-Jahren bis heute, aber das ist alles neu erworben worden nach 1945“, betont Julia Friedrich. Für sie wie auch für Christian Fuhrmeister ist klar, dass der kunstgeschichtliche Blick auf das 20. Jahrhundert in Deutschland heute verzerrt ist.
Gemälde eines Jungen im blauen Pullover und eines Mädchen im roten Pullover
Zu wenig abstrakt, um im Nachkriegsdeutschland Anerkennung zu finden: Das Gemälde "Zwei Kinder" von Otto Dix. © picture alliance / akg-images
„Was lange Zeit alles überwölbte, war die Neuerfindung, der vermeintliche direkte Anschluss an die Weimarer Republik, an die Moderne, die als unproblematisch, schön und weltverbessernd und international kosmopolitisch angesehen wurde, bis hin zur ‚Weltsprache Abstraktion‘.“
„Und es war eben nicht die Moderne. Nicht alles, was die Moderne zu bieten hatte, sondern es war eine selektive Auswahl der Moderne, wo bestimmte Künstler, Künstlerinnen, vor allem männliche Künstler, opportun waren“, sagt Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister. „Das heißt, sie passten in das Bild der neu aufzubauenden Bundesrepublik.“ Für ihn wirkten die mentalen Prägungen der NS-Zeit auch in der Bundesrepublik fort.
„Ein Weltbild ist erschüttert und ein Weltbild, in dem relativ klare Zuweisung von gut und schlecht existiert hatten. Wird man sich selbst so radikal neu erfinden können, wie es eigentlich der politische Wechsel und der Zusammenbruch der totalitären Diktatur erfordern würde? Oder gibt es Dinge, die noch rüberragen?“

Abstrakte Kunst half, sich zu "entnazifizieren"

Es führte dazu, dass es ein Interesse gab, dieses Verstrickte auch zu übertünchen und unsichtbar zu machen“, so Friedrich. „Und da kommt eben die Moderne ins Spiel. Es war ja die Kunst, die abgelehnt worden ist, ganz stark, und die einen antifaschistischen Anstrich hatte, dadurch, dass die Nazis so stark gegen sie mobilisiert haben. Und mithilfe der Kunst konnte man sich eben selbst diesen Anstrich geben, also sich quasi selbst auch entnazifizieren, wenn man so will.“

„Die Vergangenheit ist durchaus unerschöpflich, aber sie muss selbstverständlich immer von der Gegenwart aus konstelliert werden, immer neu konstelliert“, bemerkte der Künstler Conrad Westpfahl beim 1. Darmstädter Gespräch 1950.
Gleich nach Kriegsende entfaltete sich inmitten der Trümmer erstaunlich schnell wieder kreative Produktivität. Viele Künstlerinnen und Künstler organisierten sich in Gruppen oder Interessenverbänden. Bereits am 3. Juli 1945 wurde der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründet, der als eine überparteiliche und interzonale Institution unter anderem Ausstellungen organisierte.
Unterstützt wurden diese Initiativen häufig von den Kulturoffizieren der alliierten Siegermächte. Kultur allgemein und die Kunst im Besonderen galten als ein wirkmächtiges Hilfsmittel im Demokratisierungsprozess.
„Die Kunst war Teil des Reeducationsprogramms“, sagt Kunsthistoriker und Kurator Eckhart Gillen. „Deswegen haben sich eben – außer den Engländern – die Alliierten geradezu auch überboten an Ausstellungen, an Programmen, um die Deutschen wieder in eine zivilisierte Welt zu führen, in die Kunst eben auch. Das war sicher eine sehr sinnvolle Arbeit. Das war wirklich sozusagen ein Versuch, tatsächlich die Deutschen wieder in eine Gemeinschaft der zivilisierten Völker zu bringen.“

Kunst sollte Bekenntnis zur Demokratie fördern

Die 1. Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Dresden 1946 gilt als ein früher Höhepunkt des Ausstellungswesens nach dem Krieg. Sie war eine Art Inventur und versuchte eine Rehabilitierung der vormals verfemten Kunst. Erklärtes Ziel war es, Kunstwerke aus allen Besatzungszonen zu vereinen und einen Überblick über den Stand des modernen Kunstschaffens in Deutschland zu geben.
Ein älterer Herr steht mit einer Schatulle in der Hand vor einem Bücherregal
Ermöglichte die 1. Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Dresden 1946: der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Will Grohmann.© picture alliance / Günter Bratke
Die Vielfältigkeit der Gattungen und Stile sollte ein Bekenntnis zur Demokratie und die Forderung nach einem geeinten Deutschland symbolisieren. Zu sehen waren in Dresden neben Landschaften, Stillleben und Porträts auch einige abstrakte Kompositionen und Grafiken, die die unmittelbare Vergangenheit, den Krieg und die Zerstörung thematisierten.
Um diese Schau möglich zu machen, sind der Kunstkritiker Will Grohmann und der Künstler Hans Grundig in einer abenteuerlichen Tour mit russischen LKW durch die Besatzungszonen gefahren und haben Kunst eingesammelt.

Netzwerk bestand nach NS-Zeit weiter

Ein Brief des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt an den Kölner Kunstsammler Josef Haubrich schilderte, was sich hinter den Kulissen ereignete:
„Mitte August bekam ich einen Brief, die Ausstellung sei auf das kommende Frühjahr verschoben, zwei Tage später kam ein Blitztelegramm, Grohmann sei mit zwei Lastautos unterwegs. Grohmann verzankte sich mit meinem Vertrauensmann in München, dem ausgezeichneten Dr. Grothe, früher Museumsdirektor in Dessau, dieser und die meisten Münchener waren außer sich. Mich hörte Grohmann gar nicht an, er wollte ganz offensichtlich alles alleine machen und damit auch allen Ruhm alleine haben.“ 
Hildebrand Gurlitt, der sich hier über seinen Konkurrenten beschwert, war zunächst selbst als Kurator für diese Ausstellung vorgesehen. Er hatte sich bereits in den 1920er-Jahren für Malerinnen und Maler der Moderne eingesetzt, ehe er dann in den 30er-Jahren der erfolgreichste von vier Kunsthändlern wurde, die für Hitler das Führermuseum Linz mit enteigneter Kunst bestücken sollten.
Gleichzeitig hat er verfemte Werke der Moderne ins Ausland verkauft und en passant selbst eine bemerkenswerte Sammlung aufgebaut. Auch nach dem Ende des NS-Regimes blieb er eine der einflussreichsten Personen im deutschen Kunstgeschehen. „Es ist ja auch erst durch und mit Gurlitt oder dem sogenannten Schwabinger Kunstfund später ein ganzer Forschungsbereich über die Aktivitäten deutscher Kunsthändler und Kunsthistoriker in Gang gekommen“, sagt Fuhrmeister.
Auszug aus einem Inventarbuch
Ein Eintrag im Inventarbuch zeigt den Ankauf eines Kunstwerks des umstrittenen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt.© picture alliance / dpa / Henning Kaiser
Gurlitts Brief gibt Auskunft über das deutschlandweite Netzwerk von Vertrauensmännern, aus Museumsleuten, Sammlern und Kunsthändlern, das lange vor 1933 existierte, während der NS-Diktatur bestand und auch nach 1945 weiter agierte.
Entscheidend für den Kanon der Kunst nach dem Krieg ist, dass für Museen, Kulturverwaltungen, Kunsthochschulen und Akademien Fachleute wie Gurlitt gebraucht wurden. Nur mit Hilfe ihrer Verbindungen war es möglich, Werke der klassischen Moderne, die aufgrund der sogenannten "Säuberungen" der Nazis verschwunden waren, als Leihgaben von Künstler:innen, privaten Sammler:innen oder von Kunsthändlern wie Hildebrand Gurlitt wieder zu zeigen und neu zu erwerben.

NSDAP-Mitglieder im documenta-Team

„Ich meine, über Zeichnungen von van Gogh oder Chagall oder Picasso kann natürlich jeder recht gern reden. Aber um zu wissen, wo diese Zeichnungen sind, muss man sich eben auch die Leute dazu suchen, die mithelfen können, die neue Vorschläge machen können, die das berühmte ‚Gewusst wo‘ haben.“ Der 1912 geborene Werner Haftmann wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der führenden Kunsthistoriker, der die Moderne neu sortierte. Er baute die documenta 1955 in Kassel mit auf, die zur weltweit erfolgreichsten deutschen Kunstausstellung nach dem Krieg wurde.
Haftmann ist sehr artikuliert. Er redet gut und schreibt gut – und er schreibt dieses sehr einflussreiche Buch über die Malerei des 20. Jahrhunderts“, so Friedrich.
„Mit der Kunst der Moderne versuchte man, sich zu rehabilitieren“, sagt Raphael Gross. Der Präsident des Deutschen Historischen Museums Berlin, konzipierte dort die 2021 eröffnete Ausstellung „documenta: Politik und Kunst“ über die Geschichte der ersten zehn Kunstschauen in Kassel. „Was ich wirklich nicht in der Weise vermutet hätte, wie stark dann doch, auf einer personellen Ebene, Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und der documenta-Leitung bestanden.“
Im ersten Team der documenta 1955 waren zehn von 21 Personen vormals Mitglieder der NSDAP, SA oder SS. „Und bei Werner Haftmann konnten wir ja sehr deutlich aufzeigen, in welcher Weise er wie viel stärker in den NS verstrickt war, als bis zu unserer Ausstellung wahrgenommen worden ist“, so Gross.
Werner Haftmann steht am Rednerpult und spricht zum Publikum
Werner Haftmann (l) während der Eröffnung der zweiten documenta 1959. Als Partisanenjäger der Wehrmacht war er für Folterungen und Erschießungen mitverantwortlich.© picture-alliance / dpa / Eberth
Werner Haftmann ist es zeitlebens gelungen, seinen Dienst in der deutschen Wehrmacht zu verharmlosen. Er gab an, lediglich als Übersetzer und Kunstschützer in Florenz gewesen zu sein. Erst 2019 veröffentlichte der Historiker Carlo Gentile Dokumente, die Haftmann als Partisanenjäger der Wehrmacht in Italien ausweisen, der für Verhöre, Folterungen und Erschießungen mitverantwortlich war.

Jüdische Künstlerinnen weiter nicht ausgestellt

„Aber darüber hinaus ist es so, dass wir dann eben auch genau geschaut haben, in welcher Weise diese Kontinuität auf der Ebene des Personals auch dazu geführt hat, dass man gewisse künstlerische Entscheidungen getroffen hat, die in einer Kontinuität zur NS-Kunstpolitik standen“, sagt Gross. „Dass man eben etwa deutsche jüdische Künstler, Künstlerinnen, die im NS verfolgt und ermordet worden waren, nicht ausstellte, obwohl man sie kannte, aber gezeigt hat man sie nicht.“
Darunter waren heute wenig bekannte Künstler wie Rudolf Levy oder Otto Freundlich, zu dem Julia Friedrich geforscht hat: „Für Otto Freundlich kann ich sagen, dass er sehr spät ausgestellt wurde. Erst 1960 war die erste Ausstellung – und das für einen Künstler, der extrem exponiert war in der ‚entarteten Kunst‘-Ausstellung, weil seine Skulptur ‚Der große Kopf‘ auf dem Cover dieses Katalogs gewesen ist.“
Abstraktes Gemälde in vielen Rot- und Orangetönen
Bilder wie die des im KZ ermordeten jüdischen Malers Otto Freundlich wurden nach 1945 weitgehend ignoriert.© imago images / Photo12
Jüdische Künstler haben in Werner Haftmanns Konzept in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in seinem Buch „Die Malerei des 20. Jahrhunderts“ keine Bedeutung, sagt Raphael Gross. „Wenn man sich die Werke etwa von dem Werner Haftmann anschaut, ist es vielleicht auch nicht zufällig zu sehen, in welcher Weise da die Handschrift eines ehemaligen Nazis eine Rolle spielte.“

Antisemitische, antikommunistische Haltung

Die documenta der 50er- und frühen 60er-Jahre zeigte nicht nur die Kontinuität antisemitischer, sondern auch antikommunistischer Haltung bei der Auswahl der Künstler und Kunstwerke. Viele Künstler:innen, denen die Gestaltungsformen der Moderne zu verdanken sind, beschäftigten sich mit revolutionären Ideen, mit gesellschaftskritischen, marxistischen Ansätzen.
Die offene Auseinandersetzung damit vermied Haftmann in der Kunstgeschichte, die er jetzt neu zusammenstellte, indem er sie ignorierte und sie so aus dem Kanon, aus der Erinnerung tilgte. „Es geht ja im Grunde in dieselbe Richtung gegen die Bolschewiken, also gegen den Kulturbolschewismus“, so Gillen. „Das Deutsche wird weiter verteidigt, die deutsche Moderne.“
Eine Person, von hinten zu sehen, betrachtet eine Ausstellungswand mit der Überschrift 2NS-Raubkunst auf der documenta". Daneben ist ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner zu sehen.
Die Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" setzte sich kritisch mit der Vergangenheit der bedeutenden Kunstschau in Kassel auseinander.© imago images / epd / Jürgen Blume
Die Formensprache der gezeigten Moderne wurde ideologisch in das westliche Denkmuster des Kalten Krieges eingepasst: Obwohl oder gerade weil die von Haftmann ausgewählte abstrakte Kunst wenig Politisches erzählte, wurde sie als politisches Instrument eingesetzt – als Weltsprache Abstraktion im Dienste der Freiheit, die gegen den sozialistischen Realismus in der DDR in Stellung gebracht wurde.
„Haftmann kommt aus einer Tradition, in der Kunstgeschichtsschreibung und Kunstdeutung mitarbeitend an nationaler Identitätsstiftung ist“, betont der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister. „Das hat viel zu tun auch mit der Entwicklung der Kunstgeschichte als akademisches Fach im 19. Jahrhundert.“
„Was er fortsetzt, ist eben genau diese neue Harmonie zu finden, die er ja dann auf dem Darmstädter Gespräch wortwörtlich auch verlangt“, so Gillen.

Sozialistischer Realismus und Abstraktion

Die politische Zuspitzung des Konflikts zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten und die Spaltung Deutschlands 1949 hatten direkten Einfluss auf die Kunst. In der DDR begann der unerbittliche Formalismus-Streit, der alle modernen Künstler:innen in Bedrängnis brachte. Ihre Formensprachen wurden nun als bürgerlich dekadent verpönt. Verlangt wurde ein zukunftsverheißender Sozialistischer Realismus stalinistischer Prägung. „Elendsmalerei“, wie die bildliche Umsetzung von sozialen Missständen, Kritik an Militär und Krieg in Bezug auf die jüngste Vergangenheit bezeichnet wurde, war unerwünscht.
Im Westen flammte der „Formalismus-Streit“ unter umgekehrten Vorzeichen auf.  Wer sich nicht zur „Weltsprache Abstraktion“ bekannte, geriet ins Abseits. Das galt auch für große Namen wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz.
Diese Kunst wurde zwar nicht verboten, sagt Friedrich. „Aber es ist ja die Frage, wie man bewertet, was gute Kunst, was schlechte Kunst ist.“ Dafür seien die Kunsthistoriker, Museumsdirektoren, Meinungsmacher vor allem zuständig gewesen. „Menschen, die einfach festgestellt haben, was jetzt in den Kanon gehört und was nicht.“

Keine Auseinandersetzung mit dem Holocaust

Besonders gesellschaftskritische Werke wurden auch im Westen kaum noch gezeigt, erst recht keine Kunst, die sich auf die unmittelbare Vergangenheit, auf die Ermordung von Juden, Sinti oder Roma und vielen anderen durch das NS-Regime bezog.
Erst 2015 ist beispielsweise das Buch von Kathrin Hoffmann-Curtius „Bilder zum Judenmord“ erschienen. 70 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft wurden darin erstmalig Arbeiten von zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern kunsthistorisch gewürdigt, die ihre eigenen Erfahrungen im KZ, auf der Flucht und im Krieg in eindrücklichen grafischen Serien oder Gemälden verarbeitet haben. Die meisten zeigen das Erlittene in modernen, figürlichen Bildsprachen. Sie wurden nie oder erst Jahrzehnte später veröffentlicht.
Picassos Gemälde Guernica
Picassos „Guernica“ entstand 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt Guernica durch deutsche und italienische Truppen.© picture alliance / Pacific Press
Damals galt, so Julia Friedrich: „In dem Moment, wo Kunst sich festlegen lässt, ist es keine gute Kunst mehr. Gut war für Menschen wie Haftmann der 50er-Jahre etwas in der westlichen Welt, das sich nicht auf eine politische Aussage reduzieren ließ beziehungsweise am besten überhaupt keine politische Aussage hatte. Das heißt, wenn man ein Problem hatte mit einem politischen Bild, zum Beispiel Picasso, der als Kommunist auch sich in den Dienst der Politik gestellt hat, und der zum Beispiel ein „Massaker in Korea“ gemalt hat – nach einem Angriff der Amerikaner im Koreakrieg. So ein Bild würde Haftmann jetzt nicht sagen, ist ein schlechtes Bild, weil es politisch ist, sondern es ist schlecht gemalt.“

Die documenta in der Kritik

„Wir konnten tun und lassen, was wir wollten“, erzählte Haftmann 1964 im Radio über die documenta-Anfänge. „Und auch das gegen eine gewisse Stimmung in der Öffentlichkeit, die oft genug danach rief, nun uns, diesem kleinen Team, mal endlich das Handwerk zu legen.“
Mit dem Erfolg der 1. documenta setzte sich Haftmann mit seiner Vision der Moderne als prägender Kunsthistoriker durch, er war jedoch nicht unumstritten. Ein Großteil des deutschen Publikums war auch viele Jahre nach Kriegsende noch keineswegs geneigt, den röhrenden Hirsch in idyllischer Waldlandschaft, gegen eine freie Formenkomposition von Baumeister zu tauschen.

Im Nationalsozialismus geförderte Kunst bleibt

Außerdem kritisierten ihn viele der Künstler:innen, denen er keine Beachtung schenkte. Darunter auch diejenigen, die während des Nationalsozialismus erfolgreich waren und die auch danach gut von ihrer Kunst lebten.
„Gleichwohl gab es auch Ausstellungen der Künstler, wie zum Beispiel die Gruppe Gerhardinger. Das fand ich ganz interessant, dass wirklich viele der Künstler, die alljährlich in der Großen Deutschen Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst, wie es damals noch hieß, zu sehen waren, die auch in den 50er-Jahren Jahr für Jahr gesehen werden konnten“, sagt Wolfgang Brauneis. Er ist einer der wenigen Kunsthistoriker, der sich mit diesen Künstlern und ihren Nachkriegswerken beschäftigt. Er hat 2021 die Ausstellung „Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘“ für das Deutsche Historische Museum in Berlin zusammengestellt. „Eine Arbeit von Arno Breker aus den späten 50er-Jahren sieht einfach völlig anders aus, wirklich völlig anders, als eine Arbeit von Arno Breker anno 1937.“
Arno Breker wurde in den 1930er-Jahren mit seinen monumentalen Skulpturen für das Reichssportfeld in Berlin berühmt und in den Kreis der von Hitler geförderten Künstler aufgenommen. Raphael Gross interessiert, „in welcher Weise wichtige, vom Nationalsozialismus geförderte, protegierte, im NS breit rezipierte Künstler – alles Männer – in welcher Weise die nach 1945 noch eine Präsenz haben konnten und in Wahrheit bis in die Gegenwart hinein haben, durch die Werke, die sie im öffentlichen Raum geschaffen hat.“
„Wir versuchen eben, diese Zusammenhänge aufzuzeigen, auf welche Art und Weise das dann möglich war“, sagt Brauneis.
Arno Breker arbeitet an der Figur des Prometheus
Arno Breker arbeitet am "Prometheus" (1938): Der Künstler wurde von Hitler gefördert. Seine Karriere endete nach 1945 nicht.© picture-alliance / akg-images / Weidenbaum
„Niemand hätte das erwartet, dass da so viel da ist in praktisch jeder westdeutschen Stadt“, sagt Gross. „Das ist zunächst mal, glaube ich, für sich als visuelle Kontinuität spannend.“ Wie in den Museen war man nach dem Krieg auch in den Verwaltungen auf Personal angewiesen, das bereits vor 1945 dort tätig war.
In der 2018 veröffentlichten Studie „Hüter der Ordnung“ wird der Aufbau der Innenministerien in Ost- und Westdeutschland untersucht. Deutlich wird darin, dass gerade in der Kulturabteilung der neuen Bundesrepublik die personelle Kontinuität aus der vormaligen NS-Reichsverwaltung besonders groß war. 1953 waren 85 Prozent der Beschäftigten in der neuen Kulturabteilung ehemalige NSDAP-Mitglieder, einige mit einschlägigen Erfahrungen in NS-Propaganda und ideologischer Schulung. Das lässt sich nicht auf die gesamte Verwaltung übertragen, aber die von Brauneis untersuchten Fälle zeigen, wie Verbindungen wirkten und für Aufträge sorgten.
Darüber hinaus scheint die Zustimmung in der Bevölkerung für die figürliche und leichter lesbare Kunst der unter NS-Führung tätigen Künstler weit verbreitet. Anti-modernistische Bücher, die dazu in den Nachkriegsjahren in großen Auflagen herausgegeben und gekauft wurden, sprechen außerdem eine deutliche Sprache.

Hetze gegen die Moderne

„Es ist zum Teil erstaunlich, mit welcher Heftigkeit gegen die Moderne gehetzt wird und auch in welchen Publikumsverlagen das zum Teil erscheint“, betont Brauneis. „Egal, ob in Deutschland oder in Österreich. Es gab viele anti-modernistische Autoren, auch viele, die schon im NS erfolgreich publiziert haben. Ein Beispiel, so Kunsthistoriker Wolfgang Brauneis, ist das Buch „Könner, Künstler, Scharlatane“ von Richard Eichler. „Es erscheint in dem Lehmanns Verlag, also wirklich ein rechtsradikaler Verlag, der auch schon im Nationalsozialismus erfolgreich war. Und Eichler bekommt auch Preise dafür, auch aus dem rechtsradikalen Milieu. Und da kommt in den 70er-Jahren tatsächlich dann eben die Nähe zur extremen Rechten ins Spiel.“
Welche Vorstellungen von Kunst haben sich im 20. Jahrhundert parallel entwickelt? Was ist als Moderne zu bezeichnen und was wurde durch Marginalisierung verdrängt? Bis heute sind viele Fragen offen.
Selbst Kunst, die alle zu kennen glauben, wird durch den Kontext, in dem sie gezeigt und die Art, wie sie präsentiert wird, unterschiedlich gelesen. Kunsthistorikerin Julia Friedrich: „Wie zeigt man diese Bilder? Was will man mit ihnen sagen? Und wenn dann Guernica im Haus der Kunst ausgestellt wurde, ist auch die Frage, wie framed man das? Wie erklärt man dann ein solches Bild? Und nimmt man zum Beispiel Bezug auf eine berühmte Anekdote von Picasso, der deutsche Offiziere in seinem Atelier zu Besuch hatte. Und die fragen ihn: Herr Picasso, haben Sie das gemacht? Und Picasso antwortet: Nein, Sie! Ja, das wäre zum Beispiel etwas, was man hätte sagen können. Das ist ein explizit deutsches Bild. Es ist ein Bild, das den Angriff der deutschen Legion Condor oder zumindest unter der Führung der deutschen Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica zeigt. Oder sagt man: Es ist ein Bild, das über die Leiden aller Kriege berichtet?“
Mittlerweile betrachten viele die Neuordnungen der Nachkriegszeit mit einem differenzierteren Blick. Wolfgang Brauneis führt das auf den Generationenwechsel zurück. „Die Generation der jetzt 70-Jährigen geht mit dem Thema NS-Kunst komplett anders um, als die Generation der jetzt 30-Jährigen. Ich steck dann irgendwo dazwischen, versuche, es auch so ein bisschen zu verbinden, praktisch, weil: Beides hat auch etwas für sich. Einerseits dieser Furor der älteren Generation, die damit nichts zu tun haben will und das einfach alles verteufelt, was ich nachvollziehen kann. Auch zu dem Zeitpunkt. Aber auch die Nüchternheit, mit der jetzt quasi jüngere Kunsthistoriker, Kunsthistorikerinnen draufgucken.Formularende“

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