Novelle über den Gotthard-Tunnel

Die Gefahr und Geborgenheit des Berges

Arbeiter auf der Baustelle des Gotthard-Basistunnels feiern am 15.10.2010 den Durchstich des letzten Abschnitts.
Die Baustelle des Gotthard-Basistunnels ist Schauplatz von Zora del Buonos Novelle © picture alliance / dpa / Martin Ruetschi
Von Gabriele von Arnim · 28.07.2015
Quer durch den Schweizer St. Gotthard entsteht zurzeit der längste Eisenbahntunnel der Welt. Zora del Buonos Novelle "Gotthard" handelt von einem Tag im Leben der Menschen auf der Baustelle - und erzählt in präziser Sprache packende Lebensgeschichten.
199,19, 8 – die Zahlen hat er im Kopf. Er hat ein Faible für Zahlen. Manchmal singt er sie. 199 Arbeiter sind beim Bau des ersten Eisenbahntunnels im Gotthard umgekommen, 19 starben bei den Arbeiten zum Autotunnel und bisher 8 auf der jetzigen Baustelle des Basistunnels für Hochgeschwindigkeitszüge. Der übrigens nicht nur in dieser Novelle, sondern tatsächlich im Bau ist und 2016 eingeweiht werden soll. Dynamitdampfvergiftung, Quarzstaub in der Lunge – Todesursachen gibt es viele.
Die Leidenschaft des Buchhalters für die Eisenbahn
Fritz Bergundthal ist ein Eisenbahner. Das heißt, eigentlich ist er Buchhalter in Berlin, doch Eisenbahnen sind seine Passion. Und so ist er zum Gotthard gereist, um alte Lokomotiven bei der Arbeit am Tunnelbau zu fotografieren.
Er ist ein Zuschauer, kein Teilnehmer. Was zu ihm passt. Ein bisschen schaut er auch dem Leben zu. Bleibt akkurat und allein. Will nichts zu tun haben mit dem "absurden Libidozirkus" der anderen. Als er im Büro erzählt, dass er auf einem Campingplatz nahe der Baustelle logieren werde, wollen ihm die Kollegen so viel Menschennähe-Wagemut nicht glauben.
Zora del Buono, 1962 in Zürich geboren, ist eine wunderbare Reporterin, die sich im Laufe der Jahrzehnte auch abseitiger Themen mit Leidenschaft angenommen hat. Einmal z.B. schrieb sie eine Kulturgeschichte der Wasserleiche.
Die Tunnelbohrmaschine weckt erotische Allmachtsgefühle
Für diese Novelle ist sie in den Gotthard hinabgestiegen. Ist womöglich tatsächlich eingefahren. Es wäre ihr zuzutrauen. Und so lernen wir den Berg von innen und die Menschen in ihm kennen – die Mineure und die Lokfahrer, die Disponenten und die Männer, die ein persönliches Verhältnis zur TBM entwickeln, zur Tunnelbohrmaschine, die in manchen gar erotische Allmachtsgefühle weckt, wenn sie eindringen in den Berg und ihn durchbohren.
Wir treffen aber auch das oberirdische Personal der Baustelle: die Kantinenchefin und ihre kokette Mutter oder die Brasilianerin Monica, die gefragteste Hure am Ort. Wir begleiten die Menschen hinein in die felsige Tiefe, in ihre Zuflucht vor Alltagsproblemen und ungesühnten Verbrechen, in die Gefahr und Geborgenheit des Berges und in die Routine des professionellen Bettes.
Da ist z.B. Robert Filz, ein kleiner, quirliger, sexbesessener Kerl, einst Bäcker, jetzt Lokführer. Er liebt die Arbeit. Das Südportal des Gotthardbasistunnels ist das Herzstück seines Lebens. Wie erregend, dort hinein zu fahren und von Schwärze und Hitze verschlungen zu werden, 1800 Meter Gestein über sich.
Klare, eindringliche Prosa ohne Wortfirlefanz
Ein einziger Tag wird erzählt. Von der Dusche, die Bergundthal um 6 Uhr morgens nimmt, oder der Ohnmacht, in die Robert Filz um 10.50 Uhr fällt.
Und doch erfahren wir ganze Lebensgeschichten oder besser gesagt: so entscheidende Momente des Lebens, dass wir uns den Rest hinzuphantasieren können. Die Autorin belässt uns genau die Leerstellen, die wir als Leser brauchen, um uns mit Haut und Herz hineinbegeben zu können in die Fiktion.
Zora del Buono schreibt journalistisch genau in klarer, eindringlicher Prosa. Schaut den Menschen in kurzen Sätzen in die Seele. Wortfirlefanz liegt ihr nicht. Und so gelingen ihr bedrängende, mit Leben, Lüsten und Ängsten aufgeladene Szenen. Im Berg und um ihn herum.

Zora del Buono: Gotthard. Novelle.
C.H. Beck Verlag, München 2015
144 Seiten, 16,95 Euro

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