Alles verändernder Zufallsfund

10.02.2009
Der Privatdozent Canitz führt ein geruhsames Leben, bis eine Wasserleiche seine Welt aus dem Lot bringt. Er stößt auf ungeahnte Wendungen, Familiengeheimnisse und rauschhaften Wahn. Alles in allem: "Canitz' Verlangen" von Zora del Buono ist ein wunderbar leicht geschriebener Erstlingsroman.
Eigentlich ist in seinem Leben alles im Lot. Der Berliner Privatdozent für Germanistik, Canitz, führt eine wohltemperierte Existenz. Dank der Literatur und einer Psychoanalyse darin geübt, feinste Gefühlsnuancen wahrzunehmen, lebt er freilich dauerhaft in dem Gefühl, seinem Leben eine größere Bedeutung geben zu müssen:

"In gewissen Momenten sehnte er sich nach der großen Geste und dem großen Gefühl."

Bis er eines Nachts nach ausgelassenen Vergnügungen in einem Schwulenklub eine Tote in der Spree entdeckt. Das schaurige Bild ergreift Besitz von ihm. Vielleicht war sie gar nicht tot?

Von nun an fahndet er nach Wasserleichen in Filmen und der Literatur und stellt fest, dass sie in der Mehrzahl weiblich waren. Er findet sie bei Shakespeare, Gottfried Keller, Brecht - und er stößt auf die Schauspielerin Kristina Söderbaum, die ihrer spezifischen Filmtode wegen "Reichswasserleiche" genannt wurde.

Sein bis dahin scheinbar wissenschaftliches Interesse erfährt eine ungeahnte Wendung, als er von seiner Mutter ein peinlich gehütetes Familiengeheimnis erfährt: Ihre Schwester sei aus Angst vor Vergewaltigung durch die Russen im Mai 1945 im vorpommerschen Demmin ins Wasser gegangen - zusammen mit beinahe tausend anderen Frauen und Kindern. Aber ist dies die ganze Wahrheit? Canitz, der plötzlich eine wirkliche Aufgabe hat, macht sich wie ein Detektiv daran, Licht in die dunkle Familiengeschichte zu bringen.

Die einstige Mitbegründerin der Zeitschrift "mare", deren stellvertretende Chefredakteurin sie einige Jahre war, hat seither wohl ein Faible für das Element Wasser und alles, was damit zusammenhängt. Zumindest verdankt sich das Sujet des Romans dieser Tätigkeit. Obendrein merkt man die geschulte Journalistin, die das Genre der Reportage aufs Beste beherrscht.

Und nicht nur dies. Zora del Buono versteht sich auf Dramaturgie und die Wirkung von Spannungsbögen. Äußerst zielgerichtet erzählt sie von dem Zufallsfund des Anfangs auf das dramatische Ende zu. Klar und kühl, ohne zu moralisieren, schreibt sie sich mit süffisanten Seitenblicken durch Literatur- und Zeitgeschichte. Ihren Helden schildert sie als eine Spielart des Manns ohne Eigenschaften.

Sie taucht ihn ins milde Licht der Ironie, wenn sie dem Muttersöhnchen und Ordnungsfanatiker überraschende Anfälle von Widersetzlichkeit gönnt, zum Beispiel, als er die Bücher seiner Bibliothek nach Farben wie ein Gemälde von Mondrian neu gruppiert und in rauschhaftem Wahn aus kostbaren Gesamtausgaben seitenweise Gedichte herausreißt. Nach und nach gelingt es ihr, diesen engstirnigen Hypochonder mit seinen komischen Abseiten durchaus zu einer sympathischen Figur zu machen. Und sie erzählt außerordentlich bewegend die schmerzliche Geschichte einer Familie.

Zora del Buonos Roman ist ein Debüt und dabei alles andere als gekünstelte Abiturientenprosa, wie man sie bei Erstlingen häufig antrifft. Hier findet sich ein Ton von ganz anderer Art, lakonisch und einfühlsam zugleich, spöttisch, präzise und wunderbar leicht. Bei diesem düsteren Thema ist das ein kleines Wunder. Mit einem Wort: ein hochspannendes Lesevergnügen.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Zora del Buono: Canitz’ Verlangen
Marebuchverlag, Hamburg 2008
157 Seiten, 18,00 Euro