Notizen eines sowjetischen Kriegsberichterstatters

Rezensiert von Wilhelm von Sternburg · 11.11.2007
Wassili Grossman war während des zweiten Weltkriegs Berichterstatter der sowjetischen Armee. Er erlebte die Katastrophe der Jahre 1941 bis 1945 hautnah und schieb seine Eindrücke des wahnwitzigen Blutrauschs nieder. Nun sind seine Notizen in dem Band "Ein Schriftsteller im Krieg" nachzulesen.
In der Sowjetunion wurde "Leben und Schicksal", der in den fünfziger Jahren entstandene Roman von Wassili Grossman, nie veröffentlicht. Seine Darstellung der Schlacht um Stalingrad, das Verhalten der Menschen in diesem Drama ließ auch die nachstalinistischen Kulturpäpste in Moskau erschauern. Dieses Buch dürfe auch in zweihundert Jahren nicht veröffentlicht werden, entschied Chefideologe Michael Suslow.

Als das Manuskript nach Grossmans Tod in die Schweiz geschmuggelt wurde und dort erschien, fand es ein vielfaches Echo, und erschütternde Leser stellten ihn an die Seite von Tolstois "Krieg und Frieden" oder Pasternaks "Doktor Schiwago". In der Tat, kaum ein anderer hat die Katastrophe des Großen Vaterländischen Krieges, der mit dem Überfall von Hitlers Wehrmacht im Juni 1941 begann, literarisch so eindringlich beschrieben wie dieser Autor. Das Leiden der Opfer, die Massenmorde der Täter, das Schicksal des Einzelnen angesichts einer gigantischen Kriegsorgie, die am Ende etwa 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kosten wird, stehen im Zentrum des Romans.

Grossman, 1905 in der Ukraine geboren, beobachtete den Krieg als Korrespondent der Armeezeitung "Roter Stern". Grundlage seiner Berichte waren umfangreiche Notizen, die er an der Front oder im zerstörten Hinterland festhielt. Sie wurden auch zum Ausgangsmaterial seiner literarischen Bewältigung dieses Krieges.

Der britische Historiker Antony Beevor hat diese Notizen über sechzig Jahre später zusammengestellt und kommentierend begleitet. "Ein Schriftsteller im Krieg" lautet der Titel der jetzt erschienenen deutschen Ausgabe. Sie unterstreicht, was schon seinen Roman auszeichnet: Grossman schildert die Katastrophe der Jahre 1941 bis 1945 aus der Sicht des einfachen Soldaten und der Menschen in den von Deutschen eroberten und gebrandschatzten russischen Städte und Dörfer. So ist er – um eines von zahlreichen Beispielen seiner Aufzeichnungen zu benennen - dabei, als ein sowjetischer Offizier im Notizbuch eines toten deutschen Soldaten die Zeilen findet: "Wie viele Kilometer sind es bis Moskau?"

"Babadschanjan blickte in die zerfurchten, erschöpften Gesichter seiner Kundschafter, auf die grauen Bauernhäuschen, die klein und schutzlos vor ihm lagen, und auf den endlosen Strom der deutschen Soldaten. Dann holte er voller Schmerz, Wut und Erregung aus der Brusttasche seiner Jacke den Stummel eines Rotstifts hervor und schrieb mit großen Lettern quer über die erste Seite des deutschen Notizbuchs: Ihr werdet Moskau nie zu Gesicht bekommen! Es kommt der Tag da werden wir fragen: Wie viele Kilometer sind es bis Berlin."

Das Drama des angesichts der deutschen Kriegslawine erfolgenden Rückzugs, der Millionen sowjetischer Soldaten Tod und Gefangenschaft bringt, die Wende in Stalingrad, der Marsch auf Berlin – Grossmans Notizen spiegeln einen Vernichtungskrieg wider, der an Grausamkeit und Leiden seinesgleichen sucht. Eine Zeit des grenzenlosen Elends ist es, an dessen Anfang verzweifelte Gegenwehr und heillose Flucht stehen.

"Das waren schwere, verhängnisvolle Tage. Die Armeen gingen zurück. Die Leute blickten niedergeschlagen drein. Staub lag auf ihrer Kleidung, ihren Waffen, auf den Geschützmündungen, den Planen, die die Kisten mit den Stabsdokumenten abdeckten, auf den lackierten Deckeln der Schreibmaschinen, die wahllos auf Anhänger geworfenen Koffern, Säcken und Gewehren. Der graue, trockene Staub drang in Mund und Nase. Die Lippen trockneten und sprangen auf."

Dann der furchtbare Winter. So wie Stalins Fehleinschätzungen, seine Unfähigkeit, die Zeichen vor dem deutschen Überfall richtig zu deuten, den schnellen deutschen Vormarsch ermöglichten, haben Hitlers menschenverachtende Unterlassungen seine Soldaten ins Verderben rennen lassen. Erst der herbstliche Schlamm, in denen Menschen, Panzerwagen und Kradräder versanken, dann der entsetzliche Frost, dem die in Sommeruniformen marschierenden Wehrmachtssoldaten nahezu hilflos ausgeliefert waren. Groteske Bilder im Grauen des Krieges.

"Klirrender Frost. Knirschender Schnee. Die eisige Luft verschlägt einem den Atem. Die Nase friert zu, die Zähne schmerzen. An den Straßen, auf denen wir angreifen, liegen erfrorene Deutsche. Sie sind vollkommen unverletzt. Nicht wir haben sie getötet, sondern der Frost. Witzbolde stellen steif gefrorene Deutsche auf die Beine oder auf alle Viere, bilden fantastische Figurengruppen. Die Erfrorenen stehen mit erhobenen Fäusten, mit gespreizten Fingern. Einige scheinen weglaufen zu wollen, ziehen die Köpfe in die Schultern. Sie tragen dünnes Schuhzeug und Mäntelchen wie aus Papier, keine Wattejacken, die die Körperwärme halten. Beim hellen Mondschein schimmern die Schneefelder blau, und darauf die dunklen Schatten erfrorener deutscher Soldaten."

Auch Stalingrad erlebt Grossman aus unmittelbarer Nähe mit. Eine mörderische Schlacht, Straßen- und Häuserkämpfe, massenhafte Exekutionen von Rotarmisten, die angesichts des Grauens versuchen zu fliehen. Hitlers wahnwitziger Durchhaltebefehl lässt seine Armeen an der Wolga untergehen. Die wenigen Wehrmachtssoldaten, die überleben, erwartet ein elendes Gefangenenschicksal. In sowjetischen Kohlengruben arbeiten, hungern und sterben sie. Nach Stalingrad nur noch sinnloses Durchhalten, deutsche Rückzüge und Massengräber an den immer weiter in Richtung Westen verlaufenden Frontlinien.

Höhepunkt der Grossman-Notizen ist zweifellos sein Bericht über das Konzentrationslager Treblinka, das die sowjetischen Truppen im Sommer 1944 erreichen. Ein Bericht aus der Hölle. Veröffentlicht wurde er erstmals in einer sowjetischen Literaturzeitschrift, und der Text über das Unvorstellbare wurde bald im Nürnberger Prozess zitiert.

"Sparsamkeit, Exaktheit, Gründlichkeit, peinliche Sauberkeit – solche guten Charaktermerkmale sind vielen Deutschen eigen. Angewandt auf Landwirtschaft und Industrie, tragen sie reiche Früchte. Der Nazismus hat diese Eigenschaften für Verbrechen gegen die Menschlichkeit genutzt. Die SS hat in den Arbeitslagern in Polen agiert, als ginge es um den Anbau von Blumenkohl oder Kartoffeln."

Auch bei der Eroberung Berlins ist der Kriegsberichterstatter dabei. "Ein kolossaler Sieg", notiert Grossman angesichts der Kapitulation Deutschlands. Er ist sowjetischer Patriot. Als assimilierter Jude hat Grossman lange die Augen vor dem von Stalin geförderten Antisemitismus verschlossen. Er sollte bald auch für ihn lebensbedrohend werden. Nur der Tod des Diktators und Massenmörders bewahrt ihn vor dem Gulag.

Grossmans Notizen ergänzen seinen berühmten Roman. Auch sie zeugen vom Jahrhundert der Wölfe, die in einem wahnwitzigen Blutrausch über die Völker hergefallen sind. Seine unterschwellige Kritik am Stalinismus, in dem er viele Parallelen zum Terror der Nazis erkennt, zeugen vom Mut und vom unbestechlichen Blick dieses Schriftstellers und Zeitzeugen.

Antony Beevor,Luba Vinogradova: Ein Schriftsteller im Krieg
Wassili Grossman und die Rote Arme 1941 - 1945

Aus dem Russischen und Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann Verlag, München 2007
Antony Beevor: Ein Schriftsteller im Krieg
Antony Beevor, Luba Vinogradova: Ein Schriftsteller im Krieg© C. Bertelsmann