Zehn Jahre nach Breiviks Tat
24:51 Minuten
Der rechtsextreme Attentäter Anders Breivik mordet am 22. Juli 2011 im Regierungsviertel von Oslo und verübt dann ein Massaker in einem Ferienlager auf der Insel Utøya. 77 meist junge Menschen sterben. Bis heute ein nationales Trauma.
Kurz vor halb Vier nachmittags in Oslos Regierungsviertel, genau 15 Uhr 25. Einem Wachmann ist ein weißer Van vor dem Gebäude mit dem Büro des Ministerpräsidenten aufgefallen.
Oslo ist nicht vorbereitet
Nur Bruchteile einer Sekunde später geht die im Wagen versteckte massive selbstgebaute Bombe hoch, fast eine Tonne Sprengstoff unter anderem aus Dünger und Diesel. Die Wirkung ist verheerend, acht Menschen sterben, Gebäudefronten werden zerstört.
Auch wenn eine Spezialeinheit Berichten zufolge erst kurz vor dem Anschlag einen Anti-Terror-Einsatz geübt hatte, wird schnell klar: Oslo ist auf so etwas nicht vorbereitet, anfangs herrscht Chaos. Anders Breivik, der Attentäter, nutzt das Durcheinander, um sich abzusetzen. Mit einem Auto fährt er gut 40 Kilometer zur nordwestlich der Hauptstadt gelegenen Insel Utøya.
Dort ist das Sommercamp der AUF, Norwegens sozialdemokratischer Jugendorganisation. Breivik hat sich als Polizist verkleidet und behauptet, die etwa 560 Jugendlichen und ihre Betreuer über den Anschlag von Oslo informieren zu wollen. Man glaubt ihm und bringt den schwer bewaffneten Mann mit einem Boot auf die Insel. Dort fängt er sofort an, gezielt zu schießen, zu töten.
Er mordet über eine Stunde lang
Mehr als eine Stunde lang mordet er, ohne dass die Polizei ihn stoppt. Erst fand sich kein Hubschrauber für ein Sonderkommando, dann kein Boot für die Überfahrt zu Insel. Erst als 69 Opfer tot und 33 weitere teils schwerst verletzt sind, lässt sich Breivik widerstandslos festnehmen. Auch diese schreckliche Szene stammt aus dem Film "22. Juli" des britischen Regisseurs Paul Greengrass, der vor drei Jahren in die Kinos kam und auf dem Buch "Einer von uns, eine Geschichte über Norwegen" der Journalistin Åsne Seierstad basiert.
Dieser Tag, dieser 22. Juli, ist seither ein ganz schwerer in Norwegens Jahreskalender. Eine bis heute weit klaffende offene Wunde für alle Norwegerinnen und Norweger, die jedes Jahr nicht nur, aber vor allem am 22. Juli, wieder ein Stück weit aufgerissen wird.
Die Menschen erinnern sich an diesen Tag und auch daran, wie König Harald damals bei einer Gedenkfeier nach Worten rang. Wie ihm fast die Stimme versagte:
"Als Vater, Großvater, und Ehepartner kann ich Euren Schmerz nur erahnen. Als König des Landes fühle ich mit jedem von Euch."
Harald wird auch diesmal wieder sprechen, wenn das Land erneut erstarrt, wenn die Glocken läuten und jede und jeder spürt: Dieses Gedenken will einfach nicht Gewohnheit werden. Obwohl es vielleicht helfen würde: Mehr und mehr zu Routine werdende Betroffenheit statt immer aufs Neue diese ganz tief gefühlte Trauer um die 77 Toten des Tages, diese Fassungslosigkeit und Wut.
Eiskalt hingerichtet von "einem von uns"
77 meist junge Menschen ermordet? Nein - sie wurden eiskalt hingerichtet von "einem von uns", einem Norweger, einem Rechtsextremen. Für viele bis heute unfassbar. Auch für Tor Inge Kristoffersen, Mitglied der nationale Opfer-Hilfsorganisation. Für ihn hat dieses Nicht-Vergessen-Können aber auch etwas Gutes.
"Sich an diesen Tag zu erinnern, kann auch präventiv wirken. Die Menschen begreifen, dass Terror kein Mittel ist, um Meinungen zu äußern."
Aber das wollen auch in Norwegen nicht alle begreifen, noch immer nicht. Im Gegenteil, sagte Astrid Hoem vom Vorstand der AUF vor drei Jahren am 22. Juli und berichtete damals mit zum ersten Mal von einer Entwicklung, die viele Menschen im Land beschämt.
Morddrohungen gegen die Opfer
Danach werden die überlebenden Opfer von Oslo und vor allem Utøya immer wieder aufs Neue Opfer, diesmal von Hetzkampagnen offenbar aus der rechtsextremen Szene.
"Es ist schlimmer geworden. Es gab Morddrohungen und Hassbotschaften. Damit haben wir uns noch nicht wirklich auseinandergesetzt."
Überlebende nicht nur als lebenslange Opfer ihrer eigenen Erinnerungen und Gefühle, sondern auch als Opfer von Menschen, die noch immer so denken wie der Täter.
Bis heute zeigt er keine Reue
Anders Breivik, der nach einem Gutachterstreit über seine Schuldfähigkeit am Ende als nicht psychisch krank zur Höchststrafe verurteilt worden ist: 21 Jahre Haft mit möglicher anschließender Sicherungsverwahrung, sollte er dann immer noch eine Gefahr für die Gesellschaft sein.
In den vergangenen Jahren hat er bei weiteren Prozessen um seine angeblich menschenrechtswidrigen Haftbedingungen erneut keine Reue gezeigt, im Gegenteil: Er hat den rechten Arm demonstrativ zum Nazigruß gestreckt.
Die Prozesse hat er verloren. Aber es ist fraglich, ob er sie überhaupt gewinnen wollte. Er hat sie als Bühne benutzt und damit ein Zeichen gesetzt: "Ich ändere mich nie!" Mit einer Ausnahme. Er nennt sich jetzt Fjotolf Hansen – und bleibt für Menschen und Medien trotzdem Anders Breivik, "einer von uns"!
Die inzwischen unter anderem mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnete Autorin Åsne Seierstad äußerte sich in einem Interview mit dem ARD Studio Stockholm anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung ihres Werkes:
"Es ist wichtig, dass wir in ihm jemanden sehen, der zu Beginn 'einer von uns' war. Wir könnten sagen: Er ist krank oder anders oder hat nichts mit uns zu tun. Aber wir müssen uns auch selbst hinterfragen."
Was führte zu Breiviks Radikalisierung?
Genau das fiel und fällt vielen Menschen in Norwegen schwer. Ein seit den 1970er-Jahren wegen der Öl- und Gasförderung in der Nordsee äußerst wohlhabender und traditionell skandinavischer Wohlfahrtsstaat. Wie war da ein Breivik möglich?
Seierstad gibt in ihrem Buch keine Antwort. Aber sie listet sorgfältig recherchiert alle möglichen Faktoren auf, die zu seiner extremen Radikalisierung geführt haben könnten. Auch dazu, dass er zunächst durchaus als auffällig galt, seine Lebensumstände als schwierig, dass er später dann aber irgendwie vom "Radar" der Sozialbehörden verschwand.
Das macht den Fall umso schmerzhafter, so die Autorin, es gibt offenbar nicht das eine Ereignis in Breiviks Leben, das ihn für viele zum Monster machte. Er waren womöglich mehrere für sich nicht besonders schwerwiegende Versäumnisse des Staates, auch der Gesellschaft?
"Vielleicht lag es an seiner Kindheit oder daran, dass die Behörden ihn nicht von seiner Mutter getrennt haben, vieleicht waren es die Computerspiele oder der wachsende Rechtsextremismus. Das meine ich mit dem Hinterfragen auch unserer Gesellschaft. Ich weiß nicht, war es dies oder das? Aber ich will, dass wir über all‘ das nachdenken!"
"Wir dachten, dass wir unbesiegbar sind"
Dieses Ziel hat Åsne Seierstad erreicht. Bis heute und sicher noch weit über diesen zehnten Jahrestag des Terrors hinaus wird nachgedacht. Über die Tat und über ihre Folgen für das Land und seine Menschen.
"Norwegen hat sich verändert. Wir sind verwundbar, es ist uns passiert, wir wurden zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg angegriffen, mitten im Frieden. Und wir waren nicht vorbereitet", sagt Seierstad.
"Die Polizei hat total versagt. Wir hatten gedacht, dass wir unbesiegbar sind. Aber das waren wir nicht. Da ist jetzt diese tiefe Wunde auch, weil wir so viele von uns verloren haben und es Norwegen nicht geschafft hat, an diesem Tag seine Jugend zu schützen."
Gesellschaftliche Lehren ziehen
Das schmerzt und wird wahrscheinlich für immer schmerzen. Aber Seierstad ist deshalb noch lange nicht der Meinung, dass Breivik das Land in seinen Festen erschüttert hat, ganz im Gegenteil. Auch was das angeht, sei er gescheitert.
"Andererseits steht Norwegen auf ziemlich festen Beinen. Ein einziger Mann und seine Tat können es nicht umwerfen."
Viele Norwegerinnen und Norwegen sehen das wohl eher so wie sie. Es gibt viele Lehren, die aus den Anschlägen des 22. Juli zu ziehen sind. Unter anderem auch gesellschaftliche.
"Es geht ja nicht nur um Überzeugungen oder Religion. Es geht auch darum, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der wir alle leben können, ohne dass Menschen nur noch in zwei Schubladen gesteckt werden: Wir oder sie, gut oder schlecht. Die Folge wäre Radikalisierung, sie hat ja oft mit Identitätskrisen und Sinnzweifeln zu tun. Dem entgegenzuwirken, das ist in dieser Zeit eine große Aufgabe für Europa."
Ein Gedanke, der sicher nicht in allen Teilen Europas und eigentlich auch der Welt gleichermaßen mitgedacht oder nach dem auch nur annähernd gleichermaßen entschlossen gehandelt wird. Für Norwegen gilt er aber und wird er weiter gelten. Denn die Menschen dort haben keine Wahl. Sie müssen mit Utøya leben. Aber fertig sind sie damit nicht.
Das deutlichste Zeichen dafür ist die scheinbar unendliche Auseinandersetzung um eine nationale Gedenkstätte zusätzlich zur Gedenkstätte der AUF-Parteijugend auf der Insel selbst oder zum 2015 in Oslo eröffneten "22.-Juli-Zentrum" mit einer umfangreichen Ausstellung über die Ereignisse und Hintergründe dieses Tages.
Eine gefährliche Einstellung, die sich verbreitet
Lange wurde über die "große" Gedenkstätte nachgedacht und gestritten. Erst gab es den Entwurf einer "Wunde der Erinnerung" am Ufer vor der Insel, eine zerschnittene Landzunge. Das Projekt wurde von der Regierung gestoppt. Aus Angst vor Betroffenheitstouristen, hieß es.
Es gibt aber auch die Sorge, dass ein solches Denkmal für die Verehrung des Täters missbraucht werden könnte. Leider eine berechtigte Sorge, meinte Jonas Gahr Støre, Parteivorsitzender der norwegischen Sozialdemokraten.
"Ich will brutal ehrlich sein: Die Einstellung, die 2011 zur Tat geführt hat, ist heute weiter verbreitet als damals. Sie taucht an immer neuen Stellen auf und wir haben es nicht geschafft, sie klein zu halten. Das ist gefährlich."
50 Millionen Euro für eine Gedenkstätte
Inzwischen haben sich aber diejenigen durchgesetzt, die genau diese nationale Gedenkstätte wollen. Anwohner hatten noch dagegen geklagt – aber verloren. Geplant sind jetzt am Anleger gegenüber der Insel 77 jeweils drei Meter hohe Säulen aus Bronze, eine für jedes Opfer. Kosten: Umgerechnet etwa 50 Millionen Euro. Fertigstellung: zum zehnten Jahrestag der Anschläge, so war es jedenfalls geplant.
Aber daraus wird nun nichts. Gründe sind der lange auch juristische Streit und aktuell angeblich auch pandemiebedingte Verzögerungen beim Bau.
Da war die AUF schneller. Sie hat nicht nur ihre Einrichtungen auf Utøya um- oder ausgebaut, so dass dort wieder Sommercamps möglich sind. Sie hat auch ein eigenes Denkmal installiert. Direkt davor steht Sindre Lysø, AUF-Generalsekretär und Utøya-Überlebender.
"Wir haben auf Utøya diese kleine Gedenkstätte mitten in einer Lichtung. Dort hängt ein Ring der Erinnerung. Er trägt die Namen und das Alter aller 69 Toten. Das ist ein sehr besonderer Ort für uns, weil es in gewisser Weise ein neutraler Ort ist. Dort ist vor zehn Jahren niemand ums Leben gekommen", sagt er.
"Utøya kombiniert also, dass das Leid, die Sorgen und die Verluste niemals vergessen werden. Gleichzeitig wurde aber auch neues Leben auf die Insel gebracht."
Ist ein Neuanfang auf Utøya möglich?
Das war lange die Frage. Ist ein Neuanfang möglich für die Jugendorganisation? Oder kann, darf nie wieder jemand auf der Insel leben, arbeiten und auch – wie früher lachen und lieben? Die Antwort heute ist ein vierfaches "Ja", allerdings mit diesem wohl ewigen "Aber".
"Die Insel wurde nach drei Grundsätzen wieder aufgebaut: Erinnerung, Lernen und politisches Engagement. Das war sehr wichtig. Darauf beruhen auch alle unsere Entscheidungen für die Zukunft."
Eine Zukunft, die es ohne die schreckliche Vergangenheit nicht geben kann und nach Sindres Meinung auch nicht geben darf.
"Zehn Jahre danach, ist es besonders wichtig! Wir sehen, dass rechtsextreme Gruppen immer größer werden und dass sich wenig in den letzten zehn Jahren verändert hat. Der 22. Juli ist also ein fester Bestandteil des Sommercamps. Vielen Teilnehmern ist dies auch besonders wichtig, um das, was passiert ist, und die besondere Bedeutung Utøyas zu verstehen."
Ins Wasser gerettet
Die in Sri Lanka geborene Kamzy Gunaratnam ist mit ihren Eltern als Kleinkind nach Norwegen gekommen, war vor zehn Jahren 23 Jahre alt und mit der AUF auf Utøya.
Sie hat überlebt, weil sie sich ins Wasser retten konnte und von Breivik nicht entdeckt wurde. Sie hat sich dann durch die Dunkelheit gekämpft, durch die Schuldgefühle der Überlebenden, durch die Trauer und Wut.
Seit sechs Jahren ist sie stellvertretende Bürgermeisterin der Hauptstadt Oslo und kandidiert aktuell bei den Wahlen im Herbst als Sozialdemokratin für das norwegische Parlament – mit besten Chancen.
Norwegen ist nicht auf einen Anschlag vorbereitet
Dort gibt es noch immer viel zu tun, meint sie. Denn Norwegen sei heute nicht viel besser auf einen neuen Terroranschlag vorbereitete als vor zehn Jahren.
"Nein, nicht auf der präventiven Seite. Die Fähigkeit, so etwas im Vorfeld zu erkennen, ist auch heute noch nicht gut genug. Auch nicht bei den Sicherheitskräften. Aber zumindest gibt es mehr Forschung. Man weiß heute also mehr über Terrorismus. Nur, dieses Wissen müssen wir auch nutzen!"
Persönlich hat sie ihren Weg gefunden, mit dem 22. Juli umzugehen. Sie hat studiert, ist politisch aktiv. Es war ein langer und schwerer Weg.
"Wenn man so etwas erlebt hat, erwartet die Gesellschaft irgendwann, dass man damit abschließt. Die Menschen wissen aber nicht, was wir erlebt haben. Das kann niemand je abschütteln. Doch das normale Leben um einen herum geht weiter. Wer da nicht mitkommt, bleibt einfach stehen in allem."
Hoffnung würde helfen, irgendwo Licht am Ende des Tunnels. Etwas, das nicht nur den Opfern sagt: "Utøya ist vorbei, das kommt nicht wieder!" Aber noch ist Utøya nicht vorbei, den Eindruck macht das Land.
Den Eindruck machen die Menschen, die direkt oder indirekt betroffen waren, und irgendwie sind das ja alle gut fünf Millionen Norwegerinnen und Norweger. Wir fragen Kamzy, was sie denkt – wie sieht Norwegen in noch einmal zehn Jahren aus?
"Hoffentlich haben wir dann mehr Chancengleichheit. Hoffentlich haben mehr Menschen Arbeit und sind Teil der Gesellschaft. Und hoffentlich haben wir den Rassismus überwunden."