Nortrud Gomringer (Hg.): Eugen Gomringer. Poema

Gedichte eines Grenzgängers

Nortrud Gomringer (ed.): Eugen Gomringer. Poema
Nortrud Gomringer (ed.): Eugen Gomringer. Poema © Nimbus / imago/Mike Schmidt
Von André Hatting · 26.03.2018
Wie bedeutend Eugen Gomringers Werk ist, zeigt der Band "Poema". Mit einem Überblick über 60 Jahre seines Schaffens und flankiert von Aufsätzen zu einzelnen Gedichten wird deutlich, wie der Schweizer den Umgang mit der Sprache revolutionierte.
Konkrete Poesie ist überall. Sie ist international. Und sie ist zeitlos. Keine andere lyrische Richtung des letzten Jahrhunderts war so folgenreich für den Umgang mit Schrift wie die des Schweizers Eugen Gomringer. Das hat zum einen mit seiner Biografie zu tun. Gomringer war in den 1950er-Jahren Sekretär des Künstlers Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Bis heute empfindet er sich als "Grenzgänger" zwischen der bildenden Kunst und der Lyrik und vermittelt eifrig zwischen beidem. Zum anderen hat Ernst Jandl die Konkrete Poesie für ein Millionenpublikum popularisiert. Nicht zuletzt liegt es aber auch daran, dass viele Konkreten Poeten ihre Kunst auch in den Dienst der Werbung gestellt haben ("schreIBMaschinen") - dort begegnen uns ihre Verfahren bis heute.
Der Band "Poema" bietet einen Überblick über 60 Jahre lyrische Arbeit Eugen Gomringers, flankiert mit Aufsätzen zu einzelnen Gedichten, älteren, aber auch exklusiv für dieses Buch neu geschriebenen. Wie bedeutend das Werk des Schweizers ist, zeigt das Line-up der AutorInnen. Es reicht von Artverwandten wie Max Bill, Oskar Pastior oder Franz Mon über die berühmten Literaturwissenschaftler Walter Jens und Peter von Matt bis hin zu Überraschungsgästen wie Sibylle Lewitscharoff.

Die Kunst des Infragestellens

Das Faszinierende an der Konkreten Poesie ist ihre "hohe Kunst des Infragestellens vermeintlicher Selbstverständlichkeiten", wie es Walter Jens formuliert. Das tut sie, indem sie das sprachliche Zeichen beim Wort nimmt. Es wird zum Material, zu einem Baustein. Zeichen bilden Konstellationen, die eine "realität an sich und kein gedicht über" sind, wie Gomringer immer wieder betont:

schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen

Gomringers berühmteste Konstellation stellt das Schweigen ikonisch dar. Es ist eine revolutionäre Art, die Wirkung von Sprache durch Rekurs auf ihre Materialität zu erweitern. Sie wirkt wie die Illustration dessen, was Ludwig Wittgenstein mit seinem berühmten Satz aus dem Tractatus behauptet: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische". Dabei sind Konstellationen nur scheinbar simpel. Sie folgen vielmehr dem Leitspruch des modernen Designs: Das Einfache ist nicht einfach.

Der Streit um das "avenidas"-Gedicht

Der Verlag beteuert, er habe diesen Band geplant, bevor über Gomringers Gedicht "avenidas" an der Wand der Berliner Alice Salomon Hochschule die Sexismusdiskussion losbrach. Aber natürlich hat er darauf reagiert. In ihrem Beitrag zur Debatte berichtet Tochter Nora von einer vielsagenden Anekdote: "Auf einmal klopfen mir, der Feministin Gomringer, AfD-Fraktionsmitglieder auf die Schulter, augenzwinkernd quasi, ein 'diesen Feministinnen muss man doch einen Strich durch die Rechnung machen' mitgebend."
Wir würden der Alice Solomon Hochschule diesen Band über Eugen Gomringer gern mitgeben. Vielleicht versteht sie dann endlich, was sie mit der beschlossenen Entfernung des Gedichts alles mit entfernt.

Nortrud Gomringer (ed.): Eugen Gomringer. Poema
Gedichte und Essays
Nimbus, Wädenswil 2018
212 Seiten, 29,80 Euro

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