Norbert Gstrein: "Als ich jung war"

Fotoshooting am Rande des Abgrunds

06:18 Minuten
Cover des Buches "Als ich jung war" von Norbert Gstrein.
Die Flucht vor sich ist keine Lösung, stellt Norbert Gstrein fest. © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Verena Auffermann · 12.08.2019
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Nach einem Mord im Tiroler Hinterland flüchtet der Fotograf Franz in die USA. Doch auch dort wird er von seiner Vergangenheit und der eigenen Schuld eingeholt. Fesselnde psychologische Studie, die zeigt, dass die Flucht vor sich selbst keine Lösung ist.
Das Werk des 1961 geborenen österreichischen Schriftstellers Norbert Gstrein schwankt zwischen den Heimatverächtern und den heimwehkranken Charakteren. Es sind Handlungsreisende mit vernachlässigten bürgerlichen Bindungen.
Auch Franz, der Protagonist des neuen Romans "Als ich jung war", führt ein Leben, um das ihn niemand beneidet. Aufgewachsen als Sohn eines Hoteliers im hintersten Tirol verdient er als Hochzeitsfotograf im väterlichen Hotel sein Geld. Fotografen sind Beobachter, sie erfassen den besonderen Augenblick und halten ihn fest. Um Franz scheint es anders bestellt.

Der Verdacht als psychologische Zündschnur

Norbert Gstrein hat mit "Als ich jung war" einen doppelbödigen Scheinkrimi geschrieben. Auch wenn er selbst der Ich-Erzähler ist: Nie wird man erfahren, weshalb der rätselhafte Franz alle Bräute fürs Fotoshooting nah an einen Abgrund stellt. Oder ist das bereits ein Motiv für ein Verbrechen, gar einen Mord?
Gstreins Roman kreist um den Moment des Verdachts. Der Verdacht ist seine psychologische Zündschnur. Alle Todesfälle, wie der einer vom Hügel in die Tiefe gestürzten Braut, bleiben uneindeutig. Der Leser selbst muss das Resümee ziehen.
Die tote Braut und der Verdacht der Vergewaltigung einer Minderjährigen - im #MeToo-Zeitalter ein Modethema – sind die wunden Punkte von Franz' Existenz. Es hilft nichts, dass er sich dem Gerede durch den Umzug in die USA entzieht, wo er in den Bergen Wyomings im Winter als Skilehrer arbeitet und sich im Sommer wiederum als Fotograf durchschlägt. Franz führt das Leben eines verschwiegenen Junggesellen, der versucht, den Grat zwischen Normalität und Sehnsucht aufrechtzuerhalten.

Eine wahre Geschichte verschwiegen

In Wyoming lernt er einen amerikanischen Raketenphysiker kennen, der sich von Franz derart angezogen fühlt, dass er über Jahre bei ihm seinen Skiurlaub bucht. Als der Physiker unerwartet stirbt, kommt dessen Affäre mit einer viel jüngeren Frau ans Licht. Wieder ein Verdacht und eine Parallele zur Vergangenheit von Franz.
Im Roman heißt es, dass jeder Mensch mindestens eine wahre Geschichte seines Lebens verschweigt und deshalb sehr viele andere erzählt. Im Zentrum von "Als ich jung war" ist diese Geschichte die des Kusses, den Franz auf die Lippen des erschrockenen, ahnungslosen Mädchens gedrückt hat. War es eine sträfliche Handlung? War es die Vergewaltigung einer Minderjährigen? Das Schweigen darüber bestimmt und verdirbt sein Leben. Franz verleugnet das Geschehene vor sich selbst und zieht deshalb immer wieder neue und andere Verdächtigungen auf sich.
Sprachlich klar und inhaltlich fesselnd entwickelt Norbert Gstrein das schwer entwirrbare Geflecht aus Schuld, Selbstbetrug und Versagen und zeigt in dieser psychologischen Studie, dass die Flucht vor sich selbst keine Lösung ist.

Norbert Gstrein: "Als ich jung war"
Hanser-Verlag, München 2019
348 Seiten, 23 Euro

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