Nobelpreisträgerinnen im Gespräch

Zerstörte Leben durch Lukaschenko, Putin und Co.

04:59 Minuten
Montage aus den Portraits von Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch
Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch haben in Berlin diskutiert. Beide sagen, für ihre Heimaterfahrungen seien ihre Großmütter sehr prägend gewesen, © picture alliance / dpa / Patrick Pleul und Kay Nietfeld
Von Gerd Brendel · 26.02.2021
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Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller diskutierten in Berlin über Heimaterfahrung und Exil. Die Literaturnobelpreisträgerinnen zeigten sich entsetzt angesichts der Ereignisse in Belarus und anderswo.
Mit Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller waren gleich zwei Literaturnobelpreisträgerinnen ins Berliner Maxim-Gorki-Theater gekommen, um dort an der Konferenz "Re:writing the Future" teilzunehmen. Es ging um die Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern - und eben auch Schriftstellerinnen - im Exil.
Am Ende eines langen Konferenztags saßen die beiden Autorinnen auf der Bühne des leeren Theaters und ließen sich von Jens Bisky zu Heimat, Kindheit und Exil befragen. Es sollte darum gehen, wie "Geschichte neu erzählt werden kann" und wie, so der Ankündigungstext, "aus Widerstand eine Sprache der Hoffnung geboren werden kann".

Worte der Großmütter

Bei beiden Autorinnen waren es die Großmütter, die die Kinderheimat widersprüchlich prägten. "Die Großmutter hat die ganze Zeit gesungen. Aber natürlich war es ein großes Trauma, diese Geschichten vom Tod, die ich gehört habe", sagt Alexijewitsch. Es waren Geschichten vom Großen Vaterländischen Zweiten Weltkrieg, von Leichen deutscher und sowjetischer Soldaten auf den Feldern rings um Swetlana Alexijewitschs Dorf.
Herta Müller erinnert sich an zwei Großmütter: "Ich habe immer gedacht, ich habe zwei Großmütter. Die eine, die singt, und die andere, die betet. Ich habe dann immer die Augen zugemacht, und wenn sie glaubte, ich schlafe schon, hat sie das Gebet nicht mal zu Ende gesagt. Da dachte ich: Da ist doch was nicht in Ordnung."
Davon, was da nicht in Ordnung war, erzählte Müller Jahre später in ihrem ersten Erzählband "Niederungen" Anfang der 80er-Jahre. Schreiben als Überlebensstrategie für das innere Exil in der Diktatur.
"Ich habe damals in einer Fabrik gearbeitet. Es gab die Zumutung, dass der Geheimdienst kam und versuchte, mich zu erpressen. Es war für mich so ein Moment, wo ich dachte: Wer bin ich eigentlich? Was ist aus mir geworden? Woher komme ich?"

Interviews für die Chronistin

Fast zeitgleich schreibt Alexijewitsch ihr erstes Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" über Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Die Schriftstellerin als Chronistin vergessener Geschichte:
"Sie benutzen keine fremde Erfahrung, keine fremden Antworten auf die Fragen des Lebens." Sie, die Rentnerinnen, Afghanistan-Veteranen oder Betroffenen der Atomkatastrophe von Tschernobyl, die Alexijewitsch für ihre Bücher interviewt. "Sie können nur ihre eigenen Antworten finden und das ist etwas, was ich für meine Bücher suche."
Mit ihren Büchern und ihrem öffentlichen Engagement zählt die Nobelpreisträgerin zu den prominentesten Oppositionellen in ihrer Heimat Belarus. "Ich habe immer gesagt, wir müssen versuchen, durch die Kraft unserer Überzeugung etwas zu verändern – nicht dadurch, dass irgendeine Elite die Jugend aufruft und dann Hunderte junger Studenten unter den Panzern sterben müssen."
"Mensch, verdammte Scheiße", bricht es da aus Müller heraus. "Entschuldigung. Wie geht das? Wie kann sich ein Lukaschenko dieses ganze Land stehlen? Wie kann der Putin sich ein ganzes Land stehlen? Wie kann sich Erdogan ein ganzes Land steheln? Oder in China? Dieser Schmerz. Dieses viele, viele gestohlene, zerstörte Leben - ohne Grund, ohne Recht, ohne Legitimation. Das macht mich heute noch verrückt."

Aufnahme in Deutschland

So verrückt wie die Tatsache, "dass zum Beispiel die Leute, die aus Belarus fliehen, nicht autonatisch aufgenommen werden", so Müller. Immerhin hat das Außenministerium in diesem Monat angekündigt, verfolgten Personen und ihren Kernfamilien aus Belarus die Einreise zu erleichtern. Eine Ausnahmeregelung, von der verfolgte Musikerinnen und Musiker, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler aus afrikanischen oder asiatischen Ländern, die an den nächsten Tagen auf der "Rewriting the Future"-Konferenz noch zu Wort kommen, nur träumen können.
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