Nilüfer Göle: "Europäischer Islam"

Muslime sind längst Bestandteil der Gesellschaft

Besucherinnen kaufen am 10.06.2011 an einen Stand auf dem Markt am Maybachufer in Berlin-Kreuzberg Obst und Gemüse. Der Markt ist wegen seiner multikulturellen Vielfalt bekannt.
Nilüfer Göle: "Die Trennlinie zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen ist nicht mehr eindeutig wahrnehmbar." © picture alliance / dpa / Doreen Fiedler
Nilüfer Göle im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 29.10.2016
Muslimisches Leben gehört heute zum Alltag in Europa. Doch wie sieht dieses muslimische Leben aus? Vier Jahre ist die französisch-türkische Soziologin Nilüfer Göle durch Europa gereist und hat mit Menschen gesprochen, die sonst selten zu Wort kommen.
In Europa leben etwa 14 Millionen Muslime. Da das französische Staatsbürgerschaftsgesetz offizielle Befragungen zur ethnischen und religiösen Zugehörigkeit nicht zulässt, kann man die Zahl der Muslime in Frankreich nur schätzen.
Es könnten vier Millionen sein, vielleicht auch sieben. Dunkelziffern verführen leicht zu überschießenden Fantasien.
Nilüfer Göle: "Europäischer Islam: Muslime im Alltag" Wagenbach Verlag, 304 Seiten, 24 Euro
"Europäischer Islam"© Wagenbach Verlag
Nilüfer Göle lehrte an türkischen Hochschulen und hat am Berliner Wissenschaftskolleg geforscht, bevor sie 2001 die Leitung des Fachs Soziologie an der renommierten "Ecole des Hautes Etudes en Scíences Sociales" in Paris übernahm.

2009 initiierte sie eine auf vier Jahre angelegte Studie über den "Europäischen Islam" und "Muslime im Alltag". Die in 21 Städten gesammelten Ergebnisse wurden letztes Jahr in Frankreich publiziert und sind jetzt auf Deutsch erschienen.

Nilüfer Göle: "Europäischer Islam. Muslime im Alltag"
Wagenbach Verlag, Berlin 2016
304 Seiten, 24 Euro


In Europa leben etwa 14 Millionen Muslime. Da das französische Staatsbürgerschaftsgesetz offizielle Befragungen zur ethnischen und religiösen Zugehörigkeit nicht zulässt, kann man die Zahl der Muslime in Frankreich nur schätzen. Es könnten vier Millionen sein, vielleicht auch sieben. Dunkelziffern verführen leicht zu überschießenden Phantasien.
Nilüfer Göle lehrte an türkischen Hochschulen und hat am Berliner Wissenschaftskolleg geforscht, bevor sie 2001 die Leitung des Fachs Soziologie an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Scíences Sociales in Paris übernahm.
2009 initiierte sie eine auf vier Jahre angelegte Studie über den "Europäischen Islam" und "Muslime im Alltag". Die in 21 Städten gesammelten Ergebnisse wurden letztes Jahr in Frankreich publiziert und sind jetzt auf Deutsch im Wagenbach Verlag erschienen. Ich habe mit Nilüfer Göle in Paris gesprochen und sie zunächst gebeten, das Profil der "gewöhnlichen Muslime" zu beschreiben.
Nilüfer Göle: Unter den gewöhnlichen Muslimen sind es die, die eine ganze Reihe an Kontroversen auf europäischer Ebene ausgelöst haben, aber man versteht sie nicht, man sieht sie nicht, weil wenn man heute vom Islam spricht, redet man entweder über Dschihadisten oder über Flüchtlinge. Ich wollte den normalen Muslimen eine Stimme geben, also denjenigen, die teilhaben wollen, die sich in ihre Gesellschaften der europäischen Städte integrieren wollen.
Sie bilden bereits die zweite oder dritte Generation der Migranten aber es handelt sich um ein post-migratorisches Problem. Post-migratorisch, weil sie sich nicht mehr über die Wurzeln ihrer Eltern zu deren Herkunftsland definieren wollen, sie sind also keine Algerier mehr, keine Marokkaner, keine Türken, sondern sie sind muslimische Europäer und sie wollen ein ganz normales Leben haben. Das Problem ist, dass sie das nach den Richtlinien des Islam tun möchten, im Einklang mit bestimmten Vorschriften, die den Islam im öffentlichen Raum sichtbar machen, wie sich zu verschleiern, helal zu essen, zu beten, Moscheen in den Zentren der Städte zu bauen und sich an heiligen Werten festzuhalten.
Auf diese vier Säulen stützt sich meine Recherche vor allem, weil die Muslime, die heutzutage nach Europa kommen, diese Sichtbarkeit des Islam im öffentlichen europäischen Leben durch das Praktizieren ihrer Religion mitgebracht haben.
Sigrid Brinkmann: Praktiziert die Mehrheit der normalen Muslime ihren Glauben?

"Nach islamischen Regeln leben und am europäischen Leben teilhaben"

Göle: Nein. Denn, mich interessieren diejenigen, die gleichzeitig nach den islamischen Regeln leben wollen und am normalen europäischen Leben teilhaben wollen. Nicht alle Muslime, die aus Einwandererfamilien stammen, praktizieren ihre Religion. Vielleicht reicht das Wort "praktizieren" hier auch nicht aus, es sind diejenigen, die keine Angst mehr haben, die durch das Ausleben ihrer Religion nicht mehr eingeschüchtert werden. Die erste Generation der Migranten hatte nicht den Mut, ihre Religion zu zeigen, während die zweite und dritte Generation sich problemlos zu ihrer Religion bekennt. Unter ihnen gibt es auch Konvertiten – es ist also nicht exakt eine Frage nach den eingewanderten Muslimen, sondern nach denen, die diese Kontroversen ausgelöst haben um den Schleier, helal Essen, die Moscheen und um ihre künstlerischen Werte ...
Brinkmann: Sind die normalen Muslime Leute, die den Gebetsteppich im öffentlichen Raum ausrollen würden, was in Paris vor ein paar Jahren zu erheblichen Protesten geführt hat und Wasser auf die Mühlen des Front National war? Marine Le Pen sprach von der Besetzung des öffentlichen Raumes.
Göle: Ja, es ist diese Sichtbarkeit der Muslime, die diese antiislamische Politik ausgelöst hat, die sich die neo-populistischen Parteien auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ich denke, es gibt solche Menschen in der Bevölkerung, die diese Sichtbarkeit des Islam zurückweisen, wenn er eben nicht nur zuhause stattfindet, sondern im öffentlichen Leben. In Frankreich, Italien und Deutschland, gab es Fälle in Schulen, in denen Schüler dort ihre Gebete abhalten wollten. Es gibt also auch Debatten in Europa um diesen Islam, die europäische Züge tragen, weil es sich eben um Fragen handelt, die in Europa diskutiert werden. Vielleicht gibt es keine einfache Möglichkeit zur Einigung, aber man wird sehen, wie sich der Islam in Europa mit seinen Konflikten und Kontroversen entwickelt und wie der Islam inzwischen in den europäischen Gesellschaften verankert ist.
Brinkmann: Sie sind in Amsterdam und Köln, in London, Bologna, Toulouse und vielen anderen Städten gewesen: Es sind Orte, an denen es heftige Kontroversen um den Bau von Moscheen, das Tragen der Kopftücher und das Halal-Gebot gab. In Sarajevo, wo zu Beginn der 90er-Jahre im Krieg unendlich viele Muslime getötet wurden, sprießen heute Moscheen wie Pilze aus dem Boden. Kann man die Lebenssituation der Muslime in diesen Städten und Ländern überhaupt vergleichen?
Göle: Teilweise ja. Aber die Art und Weise, wie in den einzelnen Ländern mit diesen Problemen umgegangen wird, unterscheidet sich natürlich, mal steht der Laizismus des Staates im Vordergrund, wie in Frankreich, in nördlichen Ländern geht es zum Beispiel um die Freiheiten sexueller Minderheiten im Kontrast zu den Werten des Islam. Aber es zeichnen sich Aspekte ab, die auf eine Europäisierung hindeuten und die europäische Kartographie ändert sich im Licht dieser Recherche. Früher konzentrierte man sich auf die Konzentration der Migranten in den Städten und stellte Recherchen darüber an, wie diese Migranten sich integrierten.
Dort habe ich den roten Faden aufgenommen, der uns dann an Orte geführt hat, an denen es gar nicht viele Muslime gibt. Das Referendum gegen die Minarette in der Schweiz hilft uns zum Beispiel zu verstehen, dass es nicht nur in Einwanderungsländern diese Sorgen gibt, sondern dass auch Länder, die aus diesem Rahmen der Migration herausfallen, Debatten führen über die Präsenz und die Andersartigkeit des Islam.
Brinkmann: Nilüfer Göle, Sie sind überzeugt, dass Kunst und Kultur helfen, eine Sphäre zu schaffen, in der mehr Austausch, mehr Offenheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen möglich ist. Ist diese Zuversicht durch die Attentate in Paris, Brüssel und Nizza geschwunden?

Angst gegenüber allem, was islamisch ist

Göle: Nein, im Gegenteil. Diese Attentate haben die Gesellschaft tiefgehend verletzt. Es entstand Angst gegenüber allem, was islamisch ist, und trotz des guten Willens zum Beispiel der französischen Gesellschaft hat man nach den Attentaten auf Charlie Hebdo die muslimischen Mitbürger, die Franzosen sein wollen, und die Djihadisten und Terroristen in einen Topf geworfen. Häufig ist es schwierig, dieser Vermischung aus dem Weg zu gehen und ich denke, wir leben heute in Gesellschaften, in denen der öffentliche Raum, das öffentliche Leben, die öffentlichen Angelegenheiten sehr wichtig für die europäischen Demokratien, für die europäische Kultur sind. Angesichts dieser Gefahren besteht eine der erhofften Lösungen darin, zu verstehen, was uns trennt, was Verwundungen schafft, aber auch die Möglichkeiten zu erkennen, über diese Polarisierung, diese Kultur der Verdächtigungen, des gegenseitigen Misstrauens und der Gewalt hinauszugehen und Möglichkeiten des Zusammenlebens zu finden. Deshalb besteht meines Erachtens die Kunst darin – und das hat auch meine Recherche ergeben – diesen öffentlichen Raum mit Pluralismus zu verbinden.
Brinkmann: War die Hinrichtung eine Zäsur, die man mit dem Desaster von "Nine eleven" vergleichen?
Göle: Das könnte man schon so sagen ... Es gibt eine ganze Serie von Gewaltakten, die im Zusammenhang mit den Mohamed-Karikaturen begonnen haben und die Dänemark in die Debatten um Europa geführt haben. Es geht also nicht um Optimismus oder Pessimismus, sondern darum zu erkennen, dass die meisten Moslems, die in unserer Gesellschaft leben, nicht mit Djihadisten oder Terroristen gleichgesetzt werden können, das ist klar. Es geht darum zu deradikalisieren, wie man heute in Frankreich sagt, um eine Politik, die diese Gewalt verhindert. Ich glaube, das Wichtigste ist, sich mit den Muslimen zu verbinden, die als Mittelschicht zur aufsteigenden Klasse gehören, denen mit guten Berufen und dem Wunsch, Teil der europäischen Gesellschaften zu werden, zu diesen Muslimen sollten Brücken gebaut werden.
Brinkmann: Der Publizist Samuel Schirmbeck wollte nach der Hinrichtung der Redakteure und Zeichner von Charlie-Hebdo nicht länger zwischen "gutem Islam" und "bösem Islamismus" unterscheiden. Er hat die Radikalisierung in Nordafrika als Korrespondent erlebt und hält die Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen für absolut verheerend. Haben die in säkularen Gesellschaften lebenden religiösen Muslime sich von dieser Spaltung der Menschheit emanzipiert?
Satiremagazin "Charlie Hebdo"
Ein Mann liest die erste Ausgabe des Satiremagazins "Charlie Hebdo" nach den Anschlägen von Paris. © picture alliance / dpa / Foto: Koen Van Weel
Göle: Der Bezug zur Religion, zum Glauben war unter den Muslimen, mit denen ich gearbeitet habe, die ich befragt habe, sehr unterschiedlich. Es gab Mädchen mit Kopftuch und Mädchen ohne Kopftuch – die Frömmigkeit war also sehr unterschiedlich. Es gab auch Gespräche mit Ungläubigen – ihr großer Wunsch war vor allem, auf den anderen zuzugehen, sich mit den anderen vertraut zu machen. Mir war klar geworden, dass es viele Außenstehende gab, die keinen Kontakt zu ihren Mitbürgern hatten, also Türken, die keine Deutschen trafen und sich immer isolierter fühlten.

Möglichkeiten zur Interaktion schaffen

Es geht also darum, Möglichkeiten zur Interaktion, Treffpunkte, Debattenräume zu schaffen. Wir sprechen also nicht von Gläubigen, und von Ungläubigen, von Moslems als einem Block auf der einen Seite und Europäern auf der anderen Seite. Man muss schauen, was auf lokaler Ebene in den Städten und Kiezen debattiert wird und verstehen, was sie wollen. Wenn es Kontroversen gibt, muss man dahin gehen und verstehen, wer diese Leute sind, was sie wollen und wie sie darüber diskutieren. Wir leben heute in einer Politik der Cyber-Medialisierung, ich würde sogar sagen: Der Medienpolitik, und der öffentliche Raum existiert nicht mehr. Alles ist zur Karikatur geworden, und das schafft den Raum für eine Politik der Angst, weil man die echten Menschen, die Teilnehmer einer Debatte nicht mehr sieht. Die Trennlinie zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen ist nicht mehr eindeutig wahrnehmbar.
Brinkmann: Ist es nicht eine vernünftige Forderung zu sagen: Verkündet, dass es keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen gibt?
Göle: Ich bin ganz und gar einverstanden, das ist eine sehr vernünftige Forderung. Aber wenn die Menschen sich voneinander abgrenzen, mit ihrer Identitätspolitik, wenn es dieses Phänomen gibt, dann reicht es nicht aus, seine eigenen Überzeugungen zu bestätigen. Ich denke, es ist eine sinnvolle Forderung, aber das gesellschaftliche Leben folgt nicht immer unseren Wünschen oder unseren Überzeugungen.

Das Gespräch mit Nilüfer Göle im französischen Original: Audio Player

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