Nils Trede: "Richtung Süden"

Sprachliches Ausrücken

05:56 Minuten
Buchcover zu Nils Trede: "Richtung Süden"
Teilen als Gebot unserer Zeit: "Richtung Süden" von Nils Trede. © Deutschlandradio/Secession
Von Sigrid Brinkmann · 10.03.2021
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Ein arbeitsloser Vater von zwei Kindern streift durch eine deutsche Kleinstadt. Er erkennt Verzweiflung in den Augen der Menschen und sagt dennoch kein Wort. Macht man sich schuldig, wenn man einfach stumm weitergeht?
Ein Mann, Vater von zwei kleinen Kindern, erwerbslos, verbringt die Tage damit zu beobachten, was um ihn herum geschieht. Nils Trede gibt ihm eine Stimme und konfrontiert uns ganz unmittelbar mit dessen Wahrnehmung. Die "wie Fahndungsplakate" überall aushängenden Desinfizierungsanleitungen im Altenheim der Großmutter, die lächerliche Frisur der Kassiererin, das neoliberale Gerede seiner Ehefrau, alles schmerzt den Mann.
Immer dünnhäutiger wird der Ich-Erzähler. Seit Wochen wirken die Augen des Fleischers "so traurig und zugleich entschlossen". Die Qualität der Ware hat rapide abgenommen. Ein solcher Absturz, glaubt er, "kann nur einem Suizidgefährdeten widerfahren". Den Fleischer zu fragen, wie es ihm gehe, wäre die richtige Sache, doch der Erzähler traut sich nicht, eine mitmenschliche Sorge zu äußern und verhält sich damit so wie das Gros der Leute. Dabei spürt er sehr wohl, dass derlei Zurückhaltung ein Grund dafür ist, dass Menschen der Welt verloren gehen.

Drängender Ton für die anschwellende Unruhe

Nils Trede findet einen prägnanten, drängenden Ton für die anschwellende Unruhe des Protagonisten. Er fürchtet, es könne Krieg geben. Das wahrhaftige Sprechen fällt ihm schwer und es quält ihn, dass die Worte der anderen oft zu schnell vom "Schutt" der eigenen Lebensgeschichte überdeckt werden.
"Richtung Süden" ist der erste, nur 80 Seiten lange Roman, den Nils Trede in seiner Muttersprache publiziert. Seit 1996 lebt und arbeitet er als Arzt in Frankreich. "Sprachliches Ausrücken", glaubt der Protagonist seines Romans, sei "die letzte Chance", um sich direkt auf die Welt und die Menschen zu beziehen.
Eine Fluchtbewegung deutet sich in dem ungebräuchlichen Wort "Ausrücken" an, und es wird so kommen, dass der getriebene Protagonist bereit ist, auch "materiell auszurücken", das heißt, alles hinter sich zu lassen, um an den Ufern des Mittelmeeres etwas gut zu machen.

Wie lebt man mit der Schuld?

Denn darum geht es in diesem knappen, hoch verdichteten Roman: eine Antwort zu finden auf die Frage, wie man mit der Schuld lebt, stumm weiterzugehen, wenn die inneren Impulse einem doch klar bedeuten, dass man das Wort an jemanden richten und Hilfe anbieten sollte?
Der Fleischer mit den traurigen Augen hat sich tatsächlich umgebracht, aber es kommt schlimmer. Als der Erzähler sein Kind zur Schule begleitet, sieht er, wie ein anderer Vater seinen Sohn im Klassenzimmer heftig ohrfeigt. Wenig später stirbt der Junge.
Er war das Kind traumatisierter Menschen, die nach Europa geflüchtet waren. "Anton trug den Wahnsinn der Welt in seinem letzten Blick (…) Ich habe ihn gesehen, diesen Ausdruck. Den riesig aufgerissenen Mund, die riesig aufgerissenen Augen. Die weinen wollten, aber nicht konnten."

Teilen ist das Gebot unserer Zeit

Das Buch "Richtung Süden" lässt einen mitempfinden, wie es jemandem geht, der sich dem offenkundigen Leid anderer immer weniger verschließen kann. Es soll endlich Schluss sein mit Privilegien. Deshalb formuliert Trede neben feinen introspektiven Betrachtungen handfeste Überlegungen, die auf ausgleichende Gerechtigkeit abzielen.
In Zeiten, in denen einfach kein Konsens über das bedingungslose Grundeinkommen erzielt wird, macht er den Vorschlag, jedem Bürger 100.000 Euro zu zahlen. "Auch in die Hand des ärmsten Schluckers. Einfach deshalb, weil er existiert. Weil er ein Mensch ist. Kollektiverbe könnte das Projekt heißen. Alles kommt in eine Kasse." Teilen ist das Gebot unserer Zeit. Jeder weiß es. Konsequent verlangt Nils Tredes tragischer Protagonist, dass es endlich eingelöst wird.

Nils Trede: "Richtung Süden"
Secession Verlag für Literatur, Berlin 2021
80 Seiten, 18 Euro

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