Niedergang der ungarischen Gesellschaft
Sandor Marai ist der Autor von Erfolgsromanen wie "Die Glut" und des Lebensrückblicks "Bekenntnisse eines Bürgers". Nun liegen von ihm die ersten Bände einer großen Tagebuchausgabe vor, darunter auch "Unzeitgemäße Gedanken". Marai blickt auf darin auf das Jahr 1945 zurück - unter anderem auf die Kriegsgeschehnisse. Und er zeichnet den Niedergang der ungarischen Gesellschaft nach.
"Ich habe den Liberalismus, den Kommunismus, die weiße Ära, die neobarocke Demokratie, den Faschismus und den Nationalsozialismus durchlebt und werde wohl auch noch diverse rosarote oder rote Zeitalter durchleben müssen. Aber nie war es mir beschieden - noch wird es mir je beschieden sein -, unter politischen oder weltanschaulichen Parolen zu leben, bei denen nicht Krüppel und Idioten die Gesunden, Untalentierte und Halbtalentierte all jene, deren Talent in irgendeiner Sparte auch nur um einen Zentimeter herausragte, mit falschen und absurden Anschuldigungen überschwemmt hätten."
Ungarn 1944. Die Kriegslage unterscheidet sich kaum noch von der in Deutschland, auch die ungarischen Juden - bis dato wenigstens nicht vom Tode bedroht - fallen nun dem Holocaust zum Opfer. Schwer zu entscheiden, was demoralisierender wirkt: das servile Kriechertum der ungarischen Intellektuellen, das Bombardement Budapests oder hilflos den Deportationen zusehen zu müssen, von denen Sándor Márai selbst mittelbar bedroht wird, denn seine Frau ist Jüdin. Der bürgerlich-konservative Schriftsteller greift zur Feder und setzt den Phrasen der Zeit entschiedenen Widerstand entgegen:
"Bleib ein Dandy, im katholischen und im literarischen Sinn des Wortes, auf dem Schafott wie im Internierungslager; also gläubig und unversöhnlich. Sei anders, was auch geschehen mag! – das ist deine Demut, dein Dienst, das ist oberstes Gebot."
Der Dienst wird über Kriegswirren und Friedenschaos hinweg erfüllt. Sándor Márai hat zeitlebens Tagebuch geschrieben – das letzte, erschütternde, protokolliert sogar den eigenen Freitod 1989 bis kurz vor dessen Vollzug –, und so erhalten wir mit den vorliegenden Bänden der Jahre 44/45 einen Zeitzeugnis von bestechender Qualität. Auch angesichts von Leid und Zerstörung bleibt Márai mit jeder Körperfaser ein Dichter, Weltbeobachter, feiner Herr. Einer, der bei Kerzenlicht Marc Aurel liest und versucht, dessen Maximen auf die aktuelle Lage zu übertragen. Sieh hin und notiere! statt Jammere und lauf weg!
"Im Garten entdecke ich einen jungen Apfelbaum, der nur zwei rote Äpfel trägt. Das ist wie der erste Gedichtband. Ich begutachte ihn: Ein talentierter Baum, aus ihm wird noch etwas."
Das klingt provozierend gelassen, wo ringsum die Welt zusammenbricht, doch neben Wut und Verachtung wird Sándor Márai von der Sehnsucht nach Schönheit, Ästhetik, Liebe angetrieben – kurzum nach all jenem, was die Zivilisation ausmacht. Ständig denkt er über sein Schreiben und sein Werk nach, wiewohl er weiß, dass es dafür kein Publikum gibt und vermutlich auch so schnell nicht wieder geben wird. Mit der russischen Besetzung steht der Bürgerliche Márai rasch wieder auf der falschen Seite, wie zuvor, da ihn die Rechten als Judenfreund anfeindeten. Einer, der sagt ...
"Europa wurde von den Bürgern erbaut und von den Proleten zerstört."
... kann im bevorstehenden sozialistischen Realismus nichts werden. Und doch – das ist so sym¬pathisch an diesen für Irrtümer offenen Tagebüchern – erliegt der geistesscharfe Beobachter beim Kontakt mit den Russen einer verständlichen Illusion. Zwar stellt er fest, dass es mit deren klassenloser Gesellschaft nicht weit her sein kann ...
"Für die Offiziere wird extra gekocht, die Mahlzeiten bestehen aus mehreren Gängen und sind gut; keine Gesellschaftsordnung kann die menschliche Natur verändern."
... doch meint er aus den Gesprächen mit einquartierten Soldaten herauszuhören, dass sich der Kommunismus unter Stalin langsam demokratisiere. Die Nachkriegsordnung, schlussfolgert er, laufe weltweit auf linke Regime hinaus, und das findet er auch unterstützenswert, solange er dabei sicher sein kann ...
"... dass sich aus dieser Kraftanstrengung keine Dividende ergibt für irgendeinen. Diese Sicherheit ist der Sozialismus."
Eine Illusion. Die Dividende für den von Márai verachteten Opportunisten und Mitläufer, der seine Fahne in jeden Wind hängt, ist auch im Sozialismus beträchtlich, wohingegen sich eine marktwirtschaftliche Kapitalrendite als vergleichsweise harmlose Geschmacklosigkeit darstellt. Schon bald beschließt der heimatlose Weltbürger Englisch zu lernen, um nach Amerika zu emigrieren, was ihm jedoch erst in den 50er-Jahren gelingt.
Nicht zuletzt ist er trotz eremitischer Gedanken auch ein Familienvater. Dessen Pflichten und Sorgen verhindern einsame Entscheidungen. Allerdings wird er Vater nicht durch Zeugung, sondern durch Einwilligung. Denn den Márais läuft ein vierjähriges Findelkind zu, János, der die emotionalen Bedürfnisse des kinderlosen Ehepaars kanalisiert und auf sich lenkt. Márai verbirgt seine Gefühlsregungen zunächst hinter Bärbeißigkeit:
"Ich frage L., ob es nicht ratsam wäre, jetzt endlich auch eine andere Art von Lebewesen ins Haus zu nehmen, zum Beispiel eines, das man auch essen kann. Doch solche Lebewesen sind heutzutage selten."
Doch bald schon hat ihn der Charme des Vierjährigen vollkommen übermannt, und die verstreuten Notate über János gehören zum Schönsten, was man in der Literatur über Kinder lesen kann. 1945 adelt der Ziehvater seinen baldigen Adoptivsohn mit Worten, die in seinem Wertgefüge schlicht unüberbietbar sind:
"Ich bin zwei Tage mit dem Kind allein. Seit langer Zeit fühle ich das erste Mal wieder, dass ich meine Zeit in vornehmer Gesellschaft verbringe."
Die Tragik des an Tragischem nicht armen Lebens Sándor Márais wird 40 Jahre später darin bestehen, diesen Ziehsohn zu überleben, der mit 46 Jahren an einer Herzattacke stirbt. Wie manchmal in der Literatur hat man das Gefühl, dass Großes einen fast unbezahlbaren Preis kostet. Glücklich ist Sándor Márai auf 910 Seiten beider Tagebuchbände fast nie. Dafür von beängstigender Hellsichtigkeit, was den menschlichen Charakter angeht - und die Vergeblichkeit ihn zu verändern. Seine solitäre Grundhaltung der Selbstverantwortung, Ideologieresistenz und Staatsferne sucht seinesgleichen:
"Ich glaube immer mehr, dass das Höchste, wozu der Mensch fähig ist, echtes, menschliches Heldentum, nichts anderes als die bedingungslose, unverhandelbare Unparteilichkeit ist. Darin liegt die wahre menschliche Größe."
Sándor Márai: Tagebücher 1 und 2
'Literat und Europäer’ und 'Unzeitgemäße Gedanken'
Piper Verlag, München 2009
Ungarn 1944. Die Kriegslage unterscheidet sich kaum noch von der in Deutschland, auch die ungarischen Juden - bis dato wenigstens nicht vom Tode bedroht - fallen nun dem Holocaust zum Opfer. Schwer zu entscheiden, was demoralisierender wirkt: das servile Kriechertum der ungarischen Intellektuellen, das Bombardement Budapests oder hilflos den Deportationen zusehen zu müssen, von denen Sándor Márai selbst mittelbar bedroht wird, denn seine Frau ist Jüdin. Der bürgerlich-konservative Schriftsteller greift zur Feder und setzt den Phrasen der Zeit entschiedenen Widerstand entgegen:
"Bleib ein Dandy, im katholischen und im literarischen Sinn des Wortes, auf dem Schafott wie im Internierungslager; also gläubig und unversöhnlich. Sei anders, was auch geschehen mag! – das ist deine Demut, dein Dienst, das ist oberstes Gebot."
Der Dienst wird über Kriegswirren und Friedenschaos hinweg erfüllt. Sándor Márai hat zeitlebens Tagebuch geschrieben – das letzte, erschütternde, protokolliert sogar den eigenen Freitod 1989 bis kurz vor dessen Vollzug –, und so erhalten wir mit den vorliegenden Bänden der Jahre 44/45 einen Zeitzeugnis von bestechender Qualität. Auch angesichts von Leid und Zerstörung bleibt Márai mit jeder Körperfaser ein Dichter, Weltbeobachter, feiner Herr. Einer, der bei Kerzenlicht Marc Aurel liest und versucht, dessen Maximen auf die aktuelle Lage zu übertragen. Sieh hin und notiere! statt Jammere und lauf weg!
"Im Garten entdecke ich einen jungen Apfelbaum, der nur zwei rote Äpfel trägt. Das ist wie der erste Gedichtband. Ich begutachte ihn: Ein talentierter Baum, aus ihm wird noch etwas."
Das klingt provozierend gelassen, wo ringsum die Welt zusammenbricht, doch neben Wut und Verachtung wird Sándor Márai von der Sehnsucht nach Schönheit, Ästhetik, Liebe angetrieben – kurzum nach all jenem, was die Zivilisation ausmacht. Ständig denkt er über sein Schreiben und sein Werk nach, wiewohl er weiß, dass es dafür kein Publikum gibt und vermutlich auch so schnell nicht wieder geben wird. Mit der russischen Besetzung steht der Bürgerliche Márai rasch wieder auf der falschen Seite, wie zuvor, da ihn die Rechten als Judenfreund anfeindeten. Einer, der sagt ...
"Europa wurde von den Bürgern erbaut und von den Proleten zerstört."
... kann im bevorstehenden sozialistischen Realismus nichts werden. Und doch – das ist so sym¬pathisch an diesen für Irrtümer offenen Tagebüchern – erliegt der geistesscharfe Beobachter beim Kontakt mit den Russen einer verständlichen Illusion. Zwar stellt er fest, dass es mit deren klassenloser Gesellschaft nicht weit her sein kann ...
"Für die Offiziere wird extra gekocht, die Mahlzeiten bestehen aus mehreren Gängen und sind gut; keine Gesellschaftsordnung kann die menschliche Natur verändern."
... doch meint er aus den Gesprächen mit einquartierten Soldaten herauszuhören, dass sich der Kommunismus unter Stalin langsam demokratisiere. Die Nachkriegsordnung, schlussfolgert er, laufe weltweit auf linke Regime hinaus, und das findet er auch unterstützenswert, solange er dabei sicher sein kann ...
"... dass sich aus dieser Kraftanstrengung keine Dividende ergibt für irgendeinen. Diese Sicherheit ist der Sozialismus."
Eine Illusion. Die Dividende für den von Márai verachteten Opportunisten und Mitläufer, der seine Fahne in jeden Wind hängt, ist auch im Sozialismus beträchtlich, wohingegen sich eine marktwirtschaftliche Kapitalrendite als vergleichsweise harmlose Geschmacklosigkeit darstellt. Schon bald beschließt der heimatlose Weltbürger Englisch zu lernen, um nach Amerika zu emigrieren, was ihm jedoch erst in den 50er-Jahren gelingt.
Nicht zuletzt ist er trotz eremitischer Gedanken auch ein Familienvater. Dessen Pflichten und Sorgen verhindern einsame Entscheidungen. Allerdings wird er Vater nicht durch Zeugung, sondern durch Einwilligung. Denn den Márais läuft ein vierjähriges Findelkind zu, János, der die emotionalen Bedürfnisse des kinderlosen Ehepaars kanalisiert und auf sich lenkt. Márai verbirgt seine Gefühlsregungen zunächst hinter Bärbeißigkeit:
"Ich frage L., ob es nicht ratsam wäre, jetzt endlich auch eine andere Art von Lebewesen ins Haus zu nehmen, zum Beispiel eines, das man auch essen kann. Doch solche Lebewesen sind heutzutage selten."
Doch bald schon hat ihn der Charme des Vierjährigen vollkommen übermannt, und die verstreuten Notate über János gehören zum Schönsten, was man in der Literatur über Kinder lesen kann. 1945 adelt der Ziehvater seinen baldigen Adoptivsohn mit Worten, die in seinem Wertgefüge schlicht unüberbietbar sind:
"Ich bin zwei Tage mit dem Kind allein. Seit langer Zeit fühle ich das erste Mal wieder, dass ich meine Zeit in vornehmer Gesellschaft verbringe."
Die Tragik des an Tragischem nicht armen Lebens Sándor Márais wird 40 Jahre später darin bestehen, diesen Ziehsohn zu überleben, der mit 46 Jahren an einer Herzattacke stirbt. Wie manchmal in der Literatur hat man das Gefühl, dass Großes einen fast unbezahlbaren Preis kostet. Glücklich ist Sándor Márai auf 910 Seiten beider Tagebuchbände fast nie. Dafür von beängstigender Hellsichtigkeit, was den menschlichen Charakter angeht - und die Vergeblichkeit ihn zu verändern. Seine solitäre Grundhaltung der Selbstverantwortung, Ideologieresistenz und Staatsferne sucht seinesgleichen:
"Ich glaube immer mehr, dass das Höchste, wozu der Mensch fähig ist, echtes, menschliches Heldentum, nichts anderes als die bedingungslose, unverhandelbare Unparteilichkeit ist. Darin liegt die wahre menschliche Größe."
Sándor Márai: Tagebücher 1 und 2
'Literat und Europäer’ und 'Unzeitgemäße Gedanken'
Piper Verlag, München 2009