Geschichte der prekären Arbeit

Zwischen Ausbeutung und Systemrelevanz

34:58 Minuten
Illustration von Menschen, die einfache Arbeit verrichten, innerhalb der Silhouette eines Menschen mit erhobenen Armen.
Arbeit gilt als Wesenszug des Menschen. Aber welcher Wert ihr beigemessen wird, das hängt von den jeweils vorherrschenden Gesellschaftsideen und Machtverhältnissen ab. © imago / Ikon Images / John Holcroft
Nicole Mayer-Ahuja im Gespräch mit Catherine Newmark |
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Menschen arbeiten nicht nur für Geld, sagt die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja. Ihre Sache gut zu machen, sei für die meisten ein Ansporn. Doch immer mehr könnten von ihrer Arbeit kaum noch leben, und das habe handfeste politische Ursachen.
Dass Menschen einer bezahlten Arbeit nachgehen und damit nicht nur ihre Existenz sichern, sondern auch auf Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung hoffen dürfen, erscheint uns heute völlig selbstverständlich. Doch wenn wir die Uhr nur ein wenig zurückdrehen, sei es das keineswegs, sagt Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Lohnarbeit als unwürdige Tätigkeit

"Die Tatsache, dass man arbeiten muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, war ein Merkmal für eine unterlegene gesellschaftliche Position", erklärt Mayer-Ahuja. Dass Lohnarbeit, die "über lange Zeit in der Menschheitsgeschichte eine der unwürdigsten Stellungen überhaupt war", im 20. Jahrhundert "quasi zum Zentrum von gesellschaftlicher Entwicklung" wurde, darin habe der französische Soziologe Robert Castel in seiner Studie "Die Metamorphosen der sozialen Frage" einen fundamentalen historischen Umbruch gesehen.
Ein historisches Gemälde mit der Darstellung von vielen Fabrikarbeitern, die im Schnee und in verschienen Richtungen zur Arbeit gehen. Im Hintergrund ist eine Gebäudekulisse zu sehen.
Im Industriezeitalter wurde Lohnarbeit endgültig zur Existenzgrundlage für den Großteil der Bevölkerung: Arbeiter in Manchester auf einem Gemälde von L. S. Lowry (1943).© Getty Images / Imperial War Museums
Der entscheidende Wandel vollzog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, erklärt Mayer-Ahuja. Bereits zuvor hätten viele Menschen durch das Ende des Feudalismus eine "doppelte Freisetzung" erfahren, wie Karl Marx es formulierte: Nicht länger gebunden an einen Lehnsherren, stand es ihnen frei, Verträge abzuschließen, um ihre eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Zugleich aber seien sie "frei von Besitz" gewesen, so dass ihnen auch gar keine andere Wahl blieb.

Entfremdung vs. Berufsethos im Kapitalismus

Mit fortschreitender Industrialisierung habe sich dann im 19. Jahrhundert der Kapitalismus als Gesellschaftsform herausgebildet, so dass Lohnarbeit "plötzlich eine Lebensstellung wird, die nicht mehr nur eine kleinere Minderheit betrifft, sondern einen großen Teil der Bevölkerung". In dieser Zeit habe sich ein Spannungsverhältnis entwickelt, welches die Haltung vieler Menschen zu ihrer Arbeit bis heute präge, so Mayer-Ahuja.
Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja, mit Brille, kurzem Haar, in einer blauen Strickbluse sitzt vor einem Bücherregal und lächelt freundlich in die Kamera.
Schlechte Bezahlung, unsichere Verträge: Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja beobachtet eine deutliche Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse.© Klaus-Peter Wittemann
"Wir haben auf der einen Seite die Identifikation mit der Arbeit, den Wunsch, Arbeit gut machen zu wollen. Die frühen Industriearbeiter waren ganz oft ehemalige Handwerker, die in diese Manufakturen gegangen sind."

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Dorthin brachten die Menschen ein hohes Berufsethos mit, sagt Mayer-Ahuja, machten aber gleichzeitig die Erfahrung, dass sie auf die Bedingungen ihrer Arbeit immer weniger Einfluss nehmen konnten.

Streit um gute Arbeitsbedingungen

"Also, der Gedanke von Entfremdung, der uns ja bis heute beschäftigt, spielte eine Rolle: eine Arbeit zu machen, deren Endprodukt man nicht mehr einschätzen kann, die unter der Kontrolle von jemand anderem stattfindet, und Werte zu schaffen, die in andere Taschen fließen." Dieses Spannungsverhältnis präge Arbeitskämpfe nach wie vor, so die Soziologin. Gestritten werde nämlich keineswegs nur um Geld, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen.

Wenn wir heute sehen, das Krankenschwestern und Pflegerinnen auf die Straße gehen, dann hat das viel damit zu tun, dass sie den Eindruck haben, ihre Arbeit nicht mehr gut machen zu können: dass das, was sie als den Inhalt ihrer Tätigkeit sehen – Kranke zu pflegen und Menschen zu helfen – durch die ökonomischen Rahmensetzungen verhindert wird.

Nicole Mayer-Ahuja, Soziologin

Auf das 19. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Lohnarbeitsgesellschaft "ihre volle Blüte" erlebt habe, gehe auch eine Rollenzuschreibung nach Geschlecht zurück, die sich bis heute darauf auswirke, was überhaupt als Arbeit eingestuft und dementsprechend gewürdigt und honoriert werde, sagt Mayer-Ahuja. Aus dieser Zeit stamme die Vorstellung, dass der Mann für den Unterhalt der Familie zuständig sei und die Frau für die – unbezahlte – Arbeit im Haushalt. Dass eine Ehefrau, selbst in mehr und mehr Arbeiterfamilien, keiner Erwerbsarbeit nachzugehen brauchte, sei als Privileg verstanden worden.

Der Einfluss traditioneller Geschlechterrollen

Als das wirtschaftliche Wachstum spätestens in den 1980er-Jahren abgekült sei, hätten viele Menschen, die nun auf bessere Verdienstmöglichkeiten angewiesen waren, keine alternativen Beschäftigungen finden können, sagt Mayer-Ahuja. Vor allem Frauen hingen in prekären Mini-Jobs fest, weil etwa im Einzelhandel Vollzeitstellen weitgehend abgeschafft worden seien.

Die ideologische Idee, der Mann verdient ja das Geld, und die Frau erwirtschaftet einen Zuverdienst und sieht sich gar nicht als abhängig Beschäftigte, sondern in erster Linie als Hausfrau und Mutter, hat dazu geführt, dass in vielen Teilen der Arbeitswelt Jobs eingerichtet worden sind, von denen man auch tatsächlich nicht leben kann.

Nicole Mayer-Ahuja, Soziologin

Was überhaupt als Leistung angesehen wird - in diesem Punkt habe sich in den letzten Jahrzehnten eine starke Umdeutung vollzogen, sagt Mayer-Ahuja. Als Helmut Kohl in den frühen 1980er-Jahren mit der Parole "Leistung muss sich wieder lohnen" antrat, seien Menschen als "Leistungsträger" definiert worden, die sich Erfolg und gesellschaftlichen Status erworben hatten. "Ein Aspekt, der dabei ziemlich aus dem Blick geriet, ist, dass Leistung, etwas mit Aufwand, mit Anstrengung zu tun hat", so Mayer-Ahuja.

"Leistungsträger" oder "systemrelevant"?

Folglich seien als "Leistungsträger" anerkannte Personenkreise und Unternehmen steuerlich entlastet worden. Menschen, die – oft unter schwierigen Bedingungen – eine gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten, sei es in der Pflege, der Kindererziehung, in Einzelhandel, Logistik oder Industrie, hätten dagegen die Erfahrung gemacht, dass ihre Leistung "sich nicht gerade in einer guten Bezahlung oder in einem guten Arbeitsvertrag niederschlägt, auf denen ich meine Lebensplanung bauen kann", so Mayer-Ahuja.
Erst während der Pandemie seien viele von ihnen stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, weil plötzlich ihre "Systemrelevanz" bemerkt wurde. Verändert habe sich an ihren konkreten Arbeitsbedingungen jedoch bisher so gut wie nichts.
Arbeit als solche mag ein grundlegender Wesenszug des Menschen sein. So habe es bereits Karl Marx gesehen, der daran den Unterschied zwischen Mensch und Tier festmachte, sagt Nicole Mayer-Ahuja: "Bei ihm können Sie zum Beispiel den Gedanken lesen, dass Menschen diejenigen Lebewesen sind, die nach einem bestimmten Plan in die Natur eingreifen. Was die beste Biene nicht tut, der schlechteste Baumeister aber schon." Wie Arbeit jedoch gewürdigt und entlohnt wird, das ist eine gesellschaftliche und politische Frage – und ihre Antwort hängt nicht unbedingt davon ab, mit wieviel Bienenfleiß jemand welchen Mehrwert für die Gesellschaft erbringt. Um die richtigen Maßstäbe dafür wird vielmehr immer wieder neu zu debattieren und zu streiten sein.
(fka)

Nicole Mayer-Ahuja, Oliver Nachtwey (Hg.): "Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
567 Seiten, 22 Euro

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