Nicolas Hénin: "Der IS und der Fehler des Westens"

Dschihadisten als Produkt arabischer Regime

Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS
Ein von Dschihadisten ausgehändigtes Foto zeigt mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe IS © AFP / HO / Al-Itisam Media
Von Markus Reiter · 09.07.2016
Der französische Journalist Nicolas Hénin war zehn Monate Gefangener des "Islamischen Staats". Mehrere seiner Mithäftlinge wurden von den Terroristen geköpft. Dennoch, so ist er überzeugt, gebe es viel schlimmere Bedrohungen im Nahen Osten als den "IS".
Wer die Männer und Frauen aus Frankreich, Deutschland und Belgien, die sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" im Irak und Syrien anschließen, als "unsere verlorenen jungen Leute", als die frustrierten und marginalisierten Kinder der Globalisierung bezeichnet, setzt sich schnell einem Verdacht aus: Hier will jemand den Islamismus entschuldigen, indem er dem Westen die Schuld zuschiebt.
An Nicolas Hénin dürfte dieser Vorwurf abprallen. Der Krisenreporter, der unter anderem für den Fernsehsender Arte arbeitet, wurde während seiner Haft gefoltert. Und er kannte mehrere, deren Hinrichtung von den Dschihadisten gefilmt und als Video ins Netz gestellt wurde. Damit lockten sie neue Kämpfer – junge Männer, die von genau dieser Gewalt und Radikalität des IS fasziniert sind.

Gewalt wird pop-kulturell inszeniert

Sie verstünden es, für ihre Propaganda popkulturelle Bezüge der Gewaltinszenierung zu nutzen. Die Dschihadisten…
"… haben alle 'Game of Thrones', 'Der Herr der Ringe' und 'Harry Potter' gesehen. Mehrere zitierten mir aus dem Film 'Matrix', indem sie Anklänge ihres eigenen Engagements sehen. Einer meiner Gefängniswärter, ein Brite und einer der sadistischsten, war Fan der 'Simpsons'."
Hénin geht es jedoch um mehr als nur darum zu erklären, wie der Islamische Staat funktioniert, mit welchen Mitteln er seine Anhänger rekrutiert und wie seine Befehlsstrukturen sind. Darüber erfährt man im Buch weniger als erwartet. Vielmehr stellt der Autor die Gewaltherrschaft der arabischen Regime selbst in den Mittelpunkt seiner fundierten und kenntnisreichen Analyse.
Das Versagen der Schulsysteme, die Verarmung und Perspektivlosigkeit der Menschen, die schlechte Regierungsarbeit und die Korruption, vor allem aber die Rechtlosigkeit und die Brutalität der Staatsmacht seien gleichermaßen Grund für die Anziehungskraft des IS wie treibende Faktoren des Arabischen Frühlings.
"Der Unterschied, ob eine Rebellion am Ende Demokratie hervorbringt oder in Gewalt abdriftet, wird letztlich durch die Reaktion des Staates bestimmt. Weil aber die arabischen Regime keinerlei Raum für Protest ließen, hatte die friedliche Opposition nicht die geringste Chance. Die Unterstützung des Westens dieser Regime ist deshalb auch der Hauptgrund für den Vertrauensverlust, mit dem wir in der Region konfrontiert sind."

Syriens Präsident Assad ist der eigentliche Schurke

Besonders brutal und skrupellos agiere der syrische Präsident Baschar Al-Assad. Überzeugend legt der französische Journalist dar, dass Assads Armee wesentlich mehr zivile Opfer zu verantworten habe als der IS. Während die Dschihadisten jedoch mit ihren Morden prahlten, vertusche der Präsident seinen Terror.
Assad habe in Wirklichkeit kein Interesse daran, massiv gegen den IS vorzugehen. Zusammen mit seinen russischen Verbündeten bekämpfe er lieber die moderate Opposition. Das Ziel: Assads Herrschaft als einzige Alternative zum islamistischen Chaos dastehen zu lassen. Der Westen falle gerade darauf herein.
Cover Nicolas Hémin: "Der IS und der Fehler des Westens"
Cover Nicolas Hémin: "Der IS und der Fehler des Westens"© Orell-Füssli-Verlag
Nicolas Hénin stellt die Interessen der rivalisierenden Kräfte im Irak und in Syrien kenntnisreich und nachvollziehbar dar. Bei seinem Vorwurf, der Westen habe nicht rechtzeitig interveniert, vernachlässigt er jedoch die geopolitischen Verhältnisse.

Kopflosigkeit des Westens wird zur stärksten Waffe des IS

In Syrien mischen auch Russland, der Iran, Israel und Saudi-Arabien mit. Der Westen kann dort nicht eingreifen, ohne diese Konstellationen zu berücksichtigen. Zumal das Beispiel Libyen zeigt, dass auch eine militärische Intervention zum Chaos führen kann.
Das Buch ist trotz der stellenweise holprigen Übersetzung eine lehrreiche Lektüre. Sie hilft, einen kühlen Blick zu bewahren. Die stärksten Waffen des "Islamischen Staates" sind nämlich nicht die Bomben, eroberten Panzer und nicht die Schwerter seiner Henker, sondern die Hysterie, die Angst und die Kopflosigkeit, die sein Terror im Westen auslösen.

Nicolas Hénin: "Der IS und der Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können"
Aus dem Französischen von Sandra Schmidt
Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2016
216 Seiten, 17,95 Euro

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