Nick Drnaso: „Sabrina“

Ein Mord, Lügen und kollektive Paranoia

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Cover der Graphic Novel von Nick Drnaso vor orangenen Farbflächen.
Hass und seine Folgen in eingefrorene, entseelte Bilder gebannt: Die Graphic Novel "Sabrina" von Nick Drnaso. © Aufbau Verlag / Deutschlandradio
Von Frank Meyer · 13.09.2019
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Die Graphic Novel "Sabrina" war der erste Comic, der für den Booker Prize nominiert wurde. Autor Nick Drnaso erzählt darin vom grausamen Mord an einer jungen Frau - und wie die Tat instrumentalisiert wird, um ein Land in eine kollektive Paranoia zu stürzen.
Mit so viel Rückenwind kommt eine Graphic Novel selten auf den Markt. Die Originalausgabe von Nick Drnaso "Sabrina" wurde 2018 als erster Comic für den hoch angesehenen Booker Prize nominiert. Eine Genre-Erweiterung, die reichlich spät kam in der 50-jährigen Geschichte dieses Literaturpreises. Noch mehr Rückenwind verlieh dem Buch die renommierte britische Autorin Zadie Smith, die erklärt hat: "‘Sabrina‘ ist das beste Buch, über alle Genres hinweg, das ich über unsere momentane Welt gelesen habe".
"Sabrina" stürzt den Betrachter in einen Horror der Geometrie. Viele Szenen spielen in Innenräumen, oft in Zentralperspektive gezeichnet, gerade Linien, die alle auf Wände zulaufen, matte Farben, eine Welt wie nach einer stillen Apokalypse. Auch draußen wirkt die wenige Natur - Rasenflächen und Hecken - wie mit dem Lineal gezogen, verzweifelt leblos. In diesen Szenerien stehen die Figuren wie deformierte Puppen, dicklich, mit Punktaugen in kargen, ausdrucksarmen Gesichtern.

Monströse Verschwörungstheorien

Sabrina ist eine junge Frau, die einem nur auf den ersten Seiten begegnet. Sie verschwindet aus der Geschichte. Ihr Verschwinden aus der Welt ist der schwerwiegende Kern der Erzählung. Nick Drnaso entwickelt sie in einer hypnotischen Langsamkeit mit vielen Andeutungen, die erst deutlich später aufgelöst werden.
Nach und nach wird klar, dass Sabrina auf grausamste Weise ermordet wurde. Videos von der Tat tauchen auf und kursieren im Internet. In sozialen Netzwerken wird das Verbrechen zum Stoff für monströse Verschwörungstheorien: Es habe den Mord an Sabrina gar nicht gegeben, ihre Angehörigen und Freunde seien nur Schauspieler, solche Gewaltakte und Amokläufe würden von der Regierung inszeniert, um alle Amerikaner zu überwachen und unter Kontrolle zu halten.

Anschläge des 11. September im Hintergrund

Diese kruden Ideen führen in eine Atmosphäre permanent lauernder Gefahr. Es gibt versteckte Beobachter, Drohungen, und der kollektive verschwörungstheoretische Hassausbruch provoziert noch mehr Gewalt. Nick Drnaso zeichnet ein Land in Paranoia, ein Land, das sich auf keine Wahrheit mehr einigen kann und die Kontrolle über sich verloren hat. Die Anschläge vom 11. September 2001 stehen im Hintergrund als katastrophischer Moment, der noch viel größere Verwerfungen nach sich gezogen hat. Drnaso bannt die horrende Dynamik dieser Zeit in eingefrorene, entseelte Bilder.
Das ganze Buch mit seiner strikten Geometrie wirkt wie eine Tür vor einem Raum, in dem ein Monster wütet. Wie lange wird die Tür noch halten, das fragt man sich gebannt und voller Unbehagen. Es gibt wenige Comics, die ein so lange nachwirkendes Bild einer deformierten Gesellschaft heraufbeschwören. Der Booker Prize für "Sabrina" wäre eine gute Idee gewesen.

Nick Drnaso: Sabrina. Graphic Novel
Aus dem Amerikanischen von Daniel Beskos und Karen Köhler
Blumenbar Verlag, Berlin 2019
208 Seiten, 26 Euro

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