Nicht mehr die Insel der Seligen

Von Aureliana Sorrento · 23.07.2013
Montebelluna gehörte einst zu den produktivsten Industriezentren Italiens. In der Region sorgte eine Unzahl von mittelständischen Betrieben für Arbeit und Wohlstand. Seit der Finanzkrise nimmt auch dort die Zahl der Arbeitslosen stark zu.
Dem Sozialamt von Montebelluna ist bis heute der frühere Wohlstand einer Kleinstadt anzusehen, die bislang kaum mit sozialen Problemen konfrontiert wurde. Kleine, gemütlich eingerichtete Räume, Holzmöbel und Bilder an den Wänden warten auf die Besucher. Hilfsbedürftige werden hier wie Gäste empfangen.

Lange müssen sie nicht warten. Termine werden telefonisch vereinbart. Doch jetzt zeigt sich auch hier die Krise: Die Telefone schellen ständig, und auch der Leiter leistet Telefondienst:

"Früher bestand das Publikum aus Menschen, die wegen einer psychischen Krankheit, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit nicht arbeiten konnten. Aber seit 2008 wenden sich ganz normale Familien an uns", " sagt Alfio Zandonà, der Leiter des Sozialamtes.

Sozialhilfe können die Ämter nicht gewähren, einen Anspruch darauf gibt es in Italien nicht. Doch je nach Budget können sie Notleidenden gelegentliche Zuschüsse für lebensnotwendige Ausgaben einräumen, für die Stromrechnung, den Lebensmittel-Einkauf oder die Schulbücher der Kinder.

Rechts und links der Via Piave, der Straße, die Montebelluna durchschneidet und mit den Nachbargemeinden verbindet, stehen reihenweise geschlossene Geschäfte. An den Schaufenstern kleben Plakate mit der Aufschrift "Zu mieten" oder "Zu verkaufen". Erst in den schmucken Gassen des Stadtzentrums finden sich Läden, die noch Kundschaft haben.

Im Spielzeuggeschäft "Bazar milanese giocattoli" verhandelt eine Mutter mit ihrem Sohn über den Kauf einer Schleuder. Seine Eltern hätten den Laden 1959 eröffnet, sagt Inhaber Carlo Taborra:

""Zuvor hatten sie einige Jahre als Straßenhändler gearbeitet. Später haben sie expandiert, noch eine Parfümerie und ein Lederwarengeschäft aufgemacht. Beide Läden werden jetzt von meinen Brüdern betrieben. Gewiss, das waren andere Zeiten. Meine Eltern haben sich voll und ganz der Arbeit gewidmet. Aber damals lohnte es sich, viel zu arbeiten, der Verdienst war entsprechend hoch. Heute geht es ums reine Überleben."

Seit Beginn der Krise können sich auch die Bewohner Montebellunas, wo es bis 2008 den meisten Menschen besser ging als in anderen italienischen Regionen, nicht mehr viel leisten:

"Früher nahmen wir die Krise nur indirekt wahr, weil sie uns nicht so getroffen hatte. Jetzt erleben wir sie am eigenen Leib, tagtäglich. Es gibt immer mehr Unternehmen, die Arbeitnehmer entlassen oder schließen müssen. Natürlich müssen die Leute dann ihre Ausgaben an die neuen Verhältnisse anpassen. Eine Durchschnittsfamilie besteht in der Regel aus zwei erwerbstätigen Eltern und einem Kind. Wenn auch nur ein Elternteil seinen Job verliert, ist es nicht einfach, über die Runden zu kommen."

Montis Haushaltsgesetz zur Rettung Italiens
In der Tat bestand das "Rette-Italien-Haushaltsgesetz", das der letzte Premier Mario Monti kurz nach seiner Ernennung im November 2011 auflegte, in erster Linie aus Steuererhöhungen und neue Steuern. Zuerst wurden die Abgaben auf Benzin und Diesel angehoben. Dann die Einkommens-, Gewerbe-, Regional- und Kommunalsteuern.

Steuern auf Luxusgüter wurden eingeführt ebenso wie die Immobiliensteuer, die wesentlich höher ist als die frühere Grundsteuer. Italien hat sich gegenüber der EU verpflichtet, seinen Schuldenberg abzubauen, um die Defizitkriterien des Stabilitätspakts zu erfüllen:

"Der Stabilitätspakt wird uns von Europa aufgezwungen und bedeutet nichts anderes als die Senkung der Staatsausgaben. Das Problem dabei ist, dass der Staat momentan die Ausgaben der Lokalverwaltungen beschneidet, das heißt derjenigen Ämter, die den Bürgern Dienstleistungen bieten. Während er es offenbar nicht schafft, seine eigenen Ausgaben zu senken."

Marzio Favero, der Bürgermeister von Montebelluna, schaut aus dem Fenster im ersten Stock des Rathauses und blickt stirnrunzelnd auf das Treiben vor dem Gebäude.

Um neun Uhr morgens stehen Scharen von Bürgern vor dem Eingang des Gebäudes Schlange. Sie warten auf Rat. Die Stadtverwaltung hat einen Schalter für Experten eingerichtet, die die neue Immobiliensteuer für Bürger berechnen können. Denn die ist nicht nur extrem hoch, sondern auch extrem kompliziert.

Favero ist Lokalpolitiker der Lega Nord. Mit den rassistischen Delirien und sezessionistischen Drohungen mancher Führungskader seiner Partei hat er allerdings nichts am Hut. Aber wie die Lega Nord tritt er für eine föderale Reform des Staates ein – und zwar nicht nur des italienischen, sondern aller europäischen Staaten. Seiner Meinung nach hat der italienische Staat schon immer die produktivsten Regionen des Landes mit unerträglich hohen Steuern ausgesaugt. Nun würden im Rahmen des Stabilitätspaktes die Mittel der Lokalverwaltungen noch weiter drastisch gekürzt:

"Inzwischen ist es für die Kommunalverwaltungen extrem schwierig geworden, den Bürgern auch nur die Grundleistungen zu gewährleisten. Wir versuchen vor allem, das Budget des Sozialamtes nicht anzutasten, denn in einer Krise wie dieser wenden sich die Menschen in erster Linie an die Kommunalverwaltungen, um Hilfe und Rat zu suchen. Manche schaffen es nicht einmal mehr, ihre Miete zu bezahlen. Wir können uns der Verpflichtung nicht entziehen, diesen Bürgern zu helfen. Aber der Staat nimmt uns auch dafür die kleinsten Mittel."

Um zu sparen, lässt Bürgermeister Favero die Laternen nachts ausschalten. Straßen werden nicht repariert.

Seit Beginn der Finanzkrise 2008 hat die Marca Trevigiana fast 3000 Unternehmen verloren. Allein im ersten Quartal 2013 haben an die 800 Firmen dicht gemacht. Die Industrie-Produktion ist im Jahr 2012 weiter um dreieinhalb Prozent geschrumpft – nach Jahren des stetigen Rückgangs. Dennoch zeigen diese Zahlen, dass es der Region immer noch besser geht als den meisten anderen in Italien.

Denn im gesamten Land haben in den ersten drei Monaten des Jahres 31.000 Unternehmen dicht gemacht. Jeden Tag schließen im Einzelhandel über 150 Geschäfte. Die Arbeitslosenquote ist von 9,8 auf 12 Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit auf 40 Prozent. Und die Staatsschulden wachsen weiter. Sie sind auf über 2000 Milliarden Euro geklettert. Betrachtet man den gesamten Zeitraum seit Anfang der Krise im Jahr 2008, hat Italien 27,6 Prozent seiner Investitionen und 6,9 Prozent seines Bruttosozialprodukts verloren. Das ist mehr als bei der Großen Depression in den Jahren 1929 bis 1934.

Zahlreiche Selbstmorde von Unternehmern
Ein typischer Anruf bei der Hotline Life Auxilium. Cristina Crema führt zwei Mal die Woche eine Reihe solcher Telefonate, meist mit Unternehmern mit Liquiditätsproblemen. Oder mit besorgten Familienangehörigen eines Unternehmers. Cristina Crema lässt sich erzählen, worum es geht und verabredet mit dem Anrufer ein persönliches Treffen. Je nach Fall werden Wirtschaftsberater oder Psychologen daran teilnehmen.

Der Handwerksverband Asolo-Montebelluna hat die Hotline nach einer Reihe von Selbstmorden von Unternehmern eingerichtet, die wegen der Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten waren. Im vergangenen Jahr waren es in Venetien 23, seit Anfang 2013 neun Unternehmer, die sich das Leben nahmen.

"Dahinter steckt immer die gleiche Konstellation: Die Schulden wachsen und wachsen und irgendwann kann man seine Angestellten nicht mehr bezahlen. In unseren mittelständischen Unternehmen ist der Angestellte keine Zahl, er ist ein Familienmitglied. Zu entscheiden, jemanden von heute auf morgen zu entlassen, dafür zu sorgen, dass er von heute auf morgen kein Einkommen hat, ist eine zu große Last für einen Unternehmer."

Nach Angaben des italienischen Handwerksverbands schuldet der italienische Staat privaten Unternehmen 90 Milliarden Euro. Laut der gegenwärtigen Regierung Enrico Lettas beträgt die Summe nur 30 Milliarden Euro. Jedenfalls weiß niemand, wann der Staat seine Schulden gegenüber den Privaten begleichen wird. Besonders davon betroffen ist das Baugewerbe.

Massimo Zappia hat sich erst vor kurzem bei der Hotline Life Auxilium gemeldet. Jetzt schwingt er ein Bündel Blätter in der Hand und erzählt dem Vorsitzenden des Handwerksverbands Stefano Zanatta, wie Banken ihn über den Tisch gezogen haben.

Zappia war Manager eines Unternehmens, das flexibel anpassbare Türen und Fenster produzierte und 2010 in Konkurs ging. Nach dem Insolvenzverfahren stand Zappia eine Abfindung in Höhe von 240.000 Euro zu. Eine Bank, die dem Insolvenzkonsortium angehörte, brachte aber Einwände gegen die Auszahlung vor. Zappia sah das Geld nie. Dabei hätte er es gut gebrauchen können. Denn gleich nach dem Konkurs seines Arbeitgebers gründete der Manager eine eigene Firma.

"Ich habe versucht, das Know-how des Unternehmens zu retten, und natürlich auch seine Kunden zu übernehmen. So hatte ich von Beginn an Aufträge für 19 Millionen Euro. Damit wollte ich ein kleines Unternehmen gründen, plante 17, 18 Leute anzustellen. Aber die Bank hat mein Projekt nicht finanzieren wollen, sie gab nur gegen Sicherheiten Kredit, nach dem Motto: Wenn du Geld hast, gebe ich dir Geld."

So paradox es auch klingen mag: Zappia musste 100.000 Euro hinterlegen, als Sicherheit für einen Kredit in Höhe von 100.000 Euro:

"Die Abmachung war folgende: Zuerst bringst du uns Geld, dafür geben wir dir ein Kredit in gleicher Höhe, und dann, wenn dein Unternehmen wächst, werden wir dich unterstützen. Das ist aber nicht geschehen. Wir sind bei der ersten Etappe stehen geblieben. Die Bank hat mein Geld angenommen, es als Garantie hinterlegt, das heißt in Anleihen investiert, und mir die gleiche Summe als Kredit gewährt und bis heute keinen Cent mehr. Sie hat mir sozusagen mein Geld verkauft. Und in anderthalb Jahren musste ich dafür 15.000 Euro Zinsen zahlen."

Massimo Zappia hat Verträge für die Produktion von 2800 Fenstern unterschrieben. Aber verbriefte Aufträge gelten den Banken nicht mehr als Sicherheit. Niemand wollte dem Start-Up-Unternehmer Massimo Zappia für den Kauf neuer, für die Produktion notweniger Maschinen, ein Darlehen geben.

"Ich musste auf Aufträge für den Bau von 2800 Fenstern verzichten, weil ich nicht in der Lage war, sie industriell zu produzieren. Also habe ich die bereits abgeschlossenen Verträge zusammen mit den Vorschüssen zurückgegeben."

Von den Geldspritzen kommt nichts an
In zwei Auktionen, am 22. Dezember 2011 und am 29. Februar 2012 hat die EZB insgesamt 1323 europäischen Banken eine Billion Euro zum Zinssatz von einem Prozent geliehen. Die Liquiditätsspritze sollte an die Unternehmen weitergeleitet werden und die Realwirtschaft ankurbeln. Reiner Hokuspokus, meint Stefano Zanatta, Vorsitzender des Handelsverbands Asolo-Montebelluna:

"Von der letzten Geldspritze der EZB an die privaten Banken ist in unserer Region gar nichts angekommen. Wenn die Banken Italiens Staatsschulden aufkaufen müssen, ist es klar, dass sie dann kein Geld haben, um es den Unternehmen zu leihen."

Die Darlehen der EZB an Privatbanken hatten zuallererst den Zweck, Staatsanleihen kriselnder Staaten, die die Notenbank selbst qua Statut nicht direkt kaufen kann, vom Markt zu nehmen. Bedingung des Deals: Die Banken, die die EZB mit frischem Geld versorgte, mussten als Sicherheiten Staatsanleihen hinterlegen.

Auf diese Art, quasi durch die Hintertür, hat die EZB italienische Staatsschulden für 102,8 Milliarden Euro gekauft. Die französischen und deutschen Banken, die italienische Staatsanleihen besessen hatten, konnten ihren Anteil an italienischen Schuldverschreibungen von 51 Prozent auf 35 Prozent reduzieren.

Bei all diesen Finanzoperationen wir die Realwirtschaft vernachlässigt, meint Stefano Zanatta. Langes, graumeliertes Haar, Jeans, die Hemdsärmel hochgekrempelt – schon das Äußere des Vorsitzenden des Handwerksverbands von Asolo-Montebelluna, lässt nicht unbedingt auf einen Unternehmervertreter schließen.

"Die ausländische Konkurrenz können wir schlagen – durch die Qualität unserer Produkte und durch unser Talent, immer neue und bessere zu erfinden. Hier in Venetien wird keine Dutzendware hergestellt, sondern High-Tech und Design. Es gibt hier Kleinunternehmen, die weltweit exportieren, weil sie ganz spezielle, hochqualitative Produkte herstellen. Unsere Probleme sind andere: die Banken und die Politik."

Die italienische Wirtschaft leide vielmehr unter einer aufgeblähten, kostspieligen Bürokratie, die immer neue, kompliziertere Normen austüftelt.

Derweil wandern italienische Unternehmen aus. Zuletzt haben Bauunternehmer der Marca Trevigiana Kontakte mit Senegal geknüpft. Es heißt, der senegalesische Staat wolle in Infrastruktur investieren und Wohnungen für jene Senegalesen bauen, die emigriert waren und nun zurückkehren wollen. Möglich, dass demnächst senegalesische Bauarbeiter mit ihren italienischen Arbeitgebern im Schlepptau heimkehren.
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