Nicht ganz gelungenes Standardwerk

Rezensiert von Andreas Abs |
An Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland herrscht kein Mangel. Edgar Wolfrum hat mit "Die geglückte Demokratie" der Liste einen weiteren Titel hinzugefügt. Zumindest seine Darstellung der soziokulturellen Entwicklung ist lesenswert.
Der Heidelberger Historiker unterzieht sich der Mühe, die vergangenen bald 60 Jahre Bundesrepublik nach drei Seiten hin nachzuerzählen: innenpolitisch, außenpolitisch und kulturell-sozial. Dabei gliedert er die Geschichte des Landes in vier Kapitel, beginnend mit "Wiederaufbau und Verwestlichung" (1949 bis 1959), dann "Dynamik und Liberalisierung" (1959 bis 1973), "Bewährung und Bewahrung" (1974 bis 1989) und schließlich "Herausforderungen und Chancen" (1990 bis 2005).

In der jeweiligen innenpolitischen Betrachtung behandelt Wolfrum Politik und Staat, das Institutionengefüge, politische und ökonomische Entwicklungen – letztere recht knapp -, herausragende Gesetzgebungen, das Regierungshandeln und Regierungswechsel. In der Außenpolitik geht es immer wieder um den Umgang mit den Nachbarn unter dem Vorzeichen des nationalsozialistischen Übergriffs in Europa und um die Europäisierung Deutschlands. Im sozial-kulturellen Kapitel stellt Wolfrum den Bevölkerungsaufbau, die Einkommensstruktur oder Tendenzen in Literatur, Musik und Film dar, so dass man einen guten Überblick über dominante kulturelle Entwicklungslinien in den vergangenen Jahrzehnten erhält. Deshalb kann das Buch auch als erste "moderne" Darstellung der bundesdeutschen Geschichte gewertet werden.

Wolfrum geht von der These aus, dass, wie der Titel seines Buches sagt, wir eine geglückte Demokratie vor uns haben. Dies lässt sich schon deshalb nicht leugnen, weil die Bundesrepublik so viele Jahre wie noch keine andere Staatsform in Deutschland zuvor ohne Krieg und elementare Krisen zugebracht hat. Seine Darstellung sei von einer kritischen Sympathie für die Entwicklung der Bundesrepublik getragen, sagt der Autor selber. Sie sei eine reformfähige Wohlstandsgesellschaft wie nur wenige in der Welt geworden. In ihrer Entwicklung sei sie gekennzeichnet durch eine fortgesetzte Stabilisierung, eine durchgreifende Pluralisierung und eine wachsende Internationalisierung – und das alles nach einem nationalsozialistischen Terrorregime, das Deutschland unter ganz andere Vorzeichen zwang, und nach einer Weimarer Republik, in der Demokratie zum Schimpfwort für die vielen Gegner dieser Staatsform geworden war.

Überraschendes, Neues über die bundesdeutsche Geschichte fördert Wolfrum nicht zutage, dafür ist die Sache wohl auch zu gut erforscht. Sein Buch zielt eher darauf, ein umfassendes Werk für den an der Geschichte seines eigenen Landes interessierten Bürger zu sein. Der muss nicht ganz so erschrocken sein, wenn er auf den mit 694 Seiten recht gewaltigen Umfang des Buches schaut. Der Text endet auf Seite 506, was natürlich immer noch für zwei Wochen Lektüre reicht, dann folgen Anmerkungen, eine Zeittafel, Tabellen und Karten, Literaturverzeichnis und ein Orts-, Sach- und Personenregister.

Gerade für den nicht im Detail vorgebildeten Leser weist das Buch aber Hürden auf. Besonders im ersten Teil handelt Wolfrum den Stoff häufig sehr summarisch ab. So heißt es beispielsweise über den ersten Bundestag, "zwar ereigneten sich im Gesetzgebungsverfahren etliche Pannen, doch die Gesetzgebungstätigkeit war insgesamt bemerkenswert..." – Welche Pannen, warum bemerkenswert? Gerne wüsste man auch bei vielen Zitaten nicht erst durch einen Blick in die Anmerkungen, wen Wolfrum da zitiert.

Hinzu treten sachliche Fehler. So heißt es über den Kanzler der ersten großen Koalition, Kiesinger, er sei ab 1950 Vertreter im Straßburger Europaparlament gewesen. Dieses gab es 1950 noch nicht, sein Vorläufer, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wurde 1951 gegründet. Kiesinger war von 1956 bis 1958 Mitglied.

An anderer Stelle schreibt Wolfrum, die Atomkraft lieferte etwa ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland. Dies stimmt zu keinem Zeitpunkt. Atomenergie lieferte im besten Jahr 2001 nicht mehr als 29,4 Prozent des Stroms und hatte einen Anteil von 12,8 Prozent am gesamten Energieverbrauch. Auch bei Begriffen hat Wolfrum nicht immer eine glückliche Hand. So verwendet er für westlich orientierte Politiker in der SPD den Ausdruck "Westernisierer", was arg nach "Western" klingt. Unschön sind auch so modische wie unscharfe Begriffe wie "Turbokapitalismus" oder abgewetzte Ausdrücke wie "verkrustete Strukturen".

Inhaltlich mag man dem Autor vorhalten, dass er ökonomischen Entwicklungen und Problemen der Bundesrepublik zu wenig Beachtung schenkt. Zusammen mit der These von der geglückten Republik verstellt dies den Blick auf die Risiken, die sich in der Wirtschaft und den Finanzen des Gesamtstaates für die weitere gedeihliche Entwicklung des Landes aufgebaut haben und die durch den internationalen Wettbewerb und die Alterung der Gesellschaft verschärft werden. Wenn der Autor eingangs feststellt, die Republik sei reformfähig, so ist das arg viel Optimismus. Auch das Gegenteil lässt sich mit guten Gründen behaupten. Es scheint jedenfalls, dass die Republik ihre Reformfähigkeit über einige doch recht zaghafte Kurskorrekturen hinaus erst noch beweisen muss.

Insgesamt lässt sich also bezweifeln, ob das Werk zum neuen Standardwerk über die bundesdeutsche Geschichte wird. Auch wenn keine uneingeschränkte Lektüreempfehlung für das Buch gegeben werden kann, so ist gleichwohl festzustellen, dass sich der Leser dank des kulturellen Teils doch einen Überblick über den bisherigen Verlauf der bundesdeutschen Geschichte verschaffen kann.

Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart
Klett-Cotta Verlag, München 2006
694 Seiten, 29,50 Euro
Edgar Wolfrum: "Die geglückte Demokratie" (Coverausschnitt)
Edgar Wolfrum: "Die geglückte Demokratie" (Coverausschnitt)© Klett-Cotta-Verlag
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