Neues Tolkien-Buch "Der Fall von Gondolin"

Aus der Rumpelkammer des Nachlasses

J. R. R. Tolkien: Der Fall von Gondolin
Der 20. Band seit Tolkiens Tod: "Der Fall von Gondolin" © Unsplash / Klett Cotta
Von Sigrid Löffler · 20.11.2018
Der Schöpfer von "Herr der Ringe", J. R. R. Tolkien, ist seit fast 50 Jahren tot, trotzdem erscheint nun mit "Der Fall von Gondolin" der 20. Band seiner Geschichten posthum. Ein gängiges Verfahren mit dem Nachlass von Bestseller-Autoren, beklagt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler.
Kürzlich ist ein neuer Band des englischen Fantasy-Großmeisters J. R. R. Tolkien auf Deutsch erschienen, "Der Fall von Gondolin". Er wurde von den zahllosen Tolkien-Fans in aller Welt ebenso ungeduldig erwartet wie alle neuen Fantasy-Geschichten vom Autor des Mega-Sellers "Der Herr der Ringe", die in den letzten 40 Jahren erschienen sind. Denn Tolkien erweist sich als ein unglaublich produktiver Autor; alle zwei Jahre kommt eine weitere Fantasy-Geschichte über sein Privat-Universum "Mittelerde" auf den Markt – und jede ist ein garantierter Bestseller. Etwa 150 Millionen Tolkien-Bücher sind inzwischen weltweit verkauft worden, übersetzt in 60 Sprachen.
Diese Produktivität ist erstaunlich, denn offenbar haben wir da etwas übersehen: die Tatsache nämlich, dass Tolkien seit 45 Jahren tot ist. "Der Fall von Gondolin" ist bereits der 20. posthum erscheinende Band aus der Rumpelkammer von Tolkiens Nachlass, in dem sein riesiges Parallel-Universum mit eigener Geografie, Geschichte und Kultur nach seinem Tode fortgeschrieben wird. Der Markt für Tolkien-Bücher scheint unendlich aufnahmefähig; die Fans lechzen förmlich nach immer neuem Erzählstoff über Mittelerde und seine Zwerge, Elben, Hobbits, Drachen und Orks.

Unzählige Romane verschleißen Tolkiens Fantasiewelt

Zu ihrem Glück gibt es da jemanden, der diesen Stoff bereitwillig und zuverlässig liefert. Dass Tolkien seine unendliche Mittelerde-Saga auch nach seinem Ableben unvermindert fortsetzen konnte, ist allein seinem Sohn Christopher Tolkien zu verdanken, seinem Erben und Nachlassverwalter. Der Sohn erbte 70 vollgestopfte Kisten mit ungeordneten, undatierten und unveröffentlichten Manuskripten seines Vaters, darunter viele Fragmente von Mittelerde-Geschichten in unterschiedlichen Fassungen und Versionen.
Christopher Tolkien hielt es für seine Aufgabe, aus diesen ungehobenen Schätzen etwas zu machen. Er ist inzwischen 94 Jahre alt und hat das letzte halbe Jahrhundert damit verbracht, aus diesem Stückwerk unvollendeter Texte seines Vaters eine zusammenhängende chronologische Geschichte des fiktiven Kontinents Mittelerde zu destillieren (und zum Teil auch selbst zu erfinden und im Stile des Vaters fortzuschreiben, wo Anschlüsse fehlten und Erzähl-Lücken klafften). Die große Saga über den "Herrn der Ringe" bildet demnach nur eine Episode der vieltausendjährigen Geschichte des Fantasy-Kosmos, den Vater Tolkien sich ausgedacht hatte, samt erfundenen Völkerschaften, Sprachen, Mythen und Landkarten.
Der Sohn beteuert, er habe keineswegs den weltweiten Hunger der Fantasy-Leser nach immer mehr Mittelerde-Geschichten befriedigen und keineswegs einen unersättlichen Markt mit neuem Tolkien-Stoff versorgen wollen (auch wenn er de facto genau das getan hat, indem er den Nachlass des Vaters aufbereitete). Nein, nein. Der Sohn sieht sich nicht als Ausweider, sondern nur als Historiker des unveröffentlichten väterlichen Werks. Ihm gehe es darum, sagt er, "die Schönheit und Ernsthaftigkeit des Werks" und "die ästhetische und philosophische Kraft dieser Schöpfung" zu bewahren. Mit der Kommerzialisierung von Tolkiens Werk möchte er nichts zu tun haben.
Dabei hat die Kommerzialisierung dieses Werk längst verschlungen – auch wenn zumeist andere daran verdient haben als der Sohn und Erbe, nämlich Verlage, die Film-, Fernseh- und Video-Industrie sowie globale Unterhaltungskonzerne und Franchise-Unternehmen, die die Tolkien-Rechte in astronomische Höhen trieben. Ganz zu schweigen von den Heerscharen von epigonalen Autoren, die von Tolkiens Klassiker schmarotzen. Da ist eine riesige Fantasy-Industrie von Tolkien-Imitaten entstanden, die in unzähligen Romanen seine Erfindungen von magischen Schwertern und Ringen, Zauberern und Monstern verschleißen.

Geschäftstüchtige Ausschlachter

Das posthume Ausweiden von Tolkiens Werk ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Kaum stirbt der Autor eines vielgelesenen Klassikers oder gar eines Welterfolgs, schon treten geschäftstüchtige Ausschlachter auf den Plan, um das lukrative Werk fortzuschreiben. Die Erben der Rechte an Stieg Larssons Millenniums-Trilogie beauftragten den Journalisten David Lagercrantz mit Fortsetzungsromanen rund um die ikonische Hackerin Lisbeth Salander. Zwei sind bereits erschienen. "Eine reine Grabplünderung", urteilen erbitterte Larsson-Freunde.
Die Tochter des verstorbenen Kinderbuch-Autors Otfried Preußler entdeckte im Nachlass ihres Vaters ein Manuskript und bastelte daraus ein neues Theaterstück um den Räuber Hotzenplotz. Ein Stück, das nach allgemeiner Ansicht höchstens dazu geeignet ist, das posthume Ansehen ihres Vaters zu beschädigen.
Dass die Amerikanerin Harper Lee lebenslang nur einen einzigen Roman veröffentlichte, nämlich den Schulbuch-Klassiker "Wer die Nachtigall stört", das wiederum störte die Anwältin der hochbetagten Autorin. Prompt entdeckte sie ein uraltes, beiseitegelegtes Manuskript der alten Dame und vermarktete es weltweit als neuen Harper-Lee-Roman, auch wenn sich herausstellte, dass es sich nur um eine verworfene Erstfassung von "Wer die Nachtigall stört" handelte.
Und seit Jahren läuft das britische Romanprojekt "Shakespeare neu erzählt", das Shakespeares Dramen als Easy Reading für heutige Leser aufbereiten will. Renommierte Autoren und Autorinnen wie Margaret Atwood, Anne Tyler, Jeanette Winterson oder Howard Jacobson nehmen sich Shakespeares Dramen vor, um daraus leicht lesbare moderne Romane zu machen. Die Verrisse der Kritiker für dieses Unternehmen liegen inzwischen vor und häufen sich. Die Beispiele ließen sich fortsetzen - des Ausquetschens von literarischen Welterfolgen ist kein Ende.

R. R. Tolkien: "Der Fall von Gondolin"
Hrsg. von Christopher Tolkien mit Illustrationen von Alan Lee
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018
352 Seiten, 22 Euro

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