Neues Ärzte-Album "Dunkel"

Karnickelfickmusik und Wahlaufruf

30:25 Minuten
Porträtaufnahme der Band „Die Ärzte”, vor schwarzem Hintergrund.
Die beste Band der Welt" hat ein Jahr nach dem Album "Hell" das Geschwisteralbum "Dunkel" vorgelegt. Im Interview machen sie klar, dass die Kreativität in letzter Zeit geradezu über geschossen sei. © Jörg Steinmetz
Farin Urlaub und Bela B. im Gespräch mit Vivian Perkovic · 24.09.2021
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Die Ärzte fragen sich selbst, wie das geschehen konnte: Aus "sexistischen Lausbuben" sind "Männer, fast schon Opis" geworden, die sogar Verantwortung übernehmen. Zugleich bestehen sie im Interview auf bestimmte Grundfreiheiten beim Punkrock.
Vivian Perkovic: 19 Songs auf dem Album, das ist sehr, sehr viel und das ein Jahr nach dem quasi Geschwisteralbum "Hell". War nicht viel los gewesen bei euch, was?
Farin Urlaub: Eine verschobene Tour, die jetzt abgesagt wurde. Ja, tatsächlich viel weniger Freunde getroffen, als man das normalerweise machen würde – selbst ich als Misanthrop. Viel Zeit für Musik und fürs Songwriting, viele Ideen, die zum Teil aus der Langeweile geboren wurden. Ja, war schon eine interessante Zeit.
Perkovic: Kann man sagen, dass das aus Langeweile geboren war?
Farin Urlaub: Nein, natürlich nicht, das ist auch eine Lüge.

Kreativität in Zeiten des großen C

Bela B.: Es war ja auch nicht so. Die Entscheidung, ein neues Album zu machen, hat so viel Kreativität in uns freigesetzt, dass wir ja schon für "Hell" mit richtig vielen Songs, mit 42 Songs ins Studio gegangen sind für "Hell" und dann beschlossen, zwei Alben zu machen. Wir hatten 36 Songs ausgesucht, jeweils 18 Songs. Wir hatten schon eine Kopplung fertig und haben uns dann aber erst mal auf "Hell" konzentriert, weil das große C dann kam und uns überrascht hat – und Farin Urlaub, weise, wie er nun mal ist, gesagt hat, lass uns erst mal eine Platte fertig machen und dann gucken, was wir mit der zweiten machen. Der Vorteil war, dass wir bei "Hell" eine traumhafte Zusammenstellung hatten.
Perkovic: "Dunkel" ist jetzt nur der Schrott, der übrig geblieben ist?
Farin Urlaub: Nee, wir hatten 18 Songs, "Dunkel" war schon fertig, haben uns dann vier Monate getrennt und haben in diesen vier Monaten 14 neue Songs geschrieben. Unaufgefordert, einfach so, weil es gab ja schon genug Songs. Dann haben wir sieben Songs von der Kopplung wieder runtergeworfen und acht neue draufgepackt, deswegen ist auf "Dunkel" jetzt einer mehr als auf "Hell".
Bela B.: Uns war klar, dass 19 Songs wahnsinnig viel für ein Album sind und Rodrigo, der sagte, viel zu viele Songs, die Platte wäre einfach kompakter mit 16 Songs. Das ist ja auch so. Es gibt Beispiele, das erste Breezer-Album hat, glaube ich, zehn Songs, die sind so der Hammer, dann legst du das noch mal auf. Oder die Beatsteaks: Bringen ein Album mit elf, zwölf Liedern und du hörst die Platte noch mal und noch mal und noch mal. Diese Hürde, dass es dann zu viele Songs sind, die gibt es da nicht.

"Noise" - Hunger, der nie gestillt wird

Perkovic: Ich habe mir überlegt, wie wir dieses Interview führen. 19 Songs, das schaffe ich nicht zu jedem Song, aber zu der Hälfte machen wir wie so eine Art Track By Track. Aber ich spiele nur Stellen ein, die mich interessieren und stelle dazu eine Frage. Wir fangen an mit "Noise" und die Stelle, die ich meine, ist diese: "Ich weiß, dich zu ändern, fällt dir schwer, doch warum fühlst du dich so leer, es geht nicht mehr weiter wie bisher, ist da vielleicht noch mehr, yeah, yeah, yeah."
In "Noise" geht es um Langeweile mit dem Herkömmlichen und um die Sehnsucht nach Neuem. Was ist denn für Die Ärzte neu? War es das, im vergangenen Jahr nach acht Jahren mal wieder ein Album aufzunehmen? Und war das jetzt auch noch neu, ein Jahr später, oder nicht?
Farin Urlaub: Ich muss kurz zur Entstehungsgeschichte des Liedes kommen, damit man überhaupt versteht, wie das Lied auf das Album gekommen ist. Das Lied war ein aussortiertes Demo von mir, was irgendwie so halb fertig war und der Text ging irgendwie nirgendwohin. Bela hat aber an dem Refrain gefallen gefunden und hat gesagt, lass mich bitte noch mal über den Text gehen. Und er hat dann in dem Zug auch die Musik noch mal massiv verbessert. Das Lied hatte vorher eine andere Richtung, es war auch dieses "etwas Neues muss her", aber es war noch diffuser. Du hast die ganze Welt gesehen, aber ...
Bela B.: Es ging eigentlich um so einen Hunger, um so einen Hunger, dass man nie satt wird. Ich dachte, das ist im Popkontext und in den Sehnsuchtsliedern, von denen es ja auch hier und da welche gibt, ein sehr kongeniales Lied von Farin, "Himmelblau". Ich dachte also, dass das mehr in diese Richtung gehen sollte. Dann kam ich auf die Idee, dass wir das so Mephisto-Faust-mäßig machen könnte: Der eine ist der Verführer, der andere spürt, dass da irgendjemand ihm auf der Schulter sitzt und sagt: Da gibt es doch noch mehr, guck doch mal, und überleg mal, ...
Perkovic: Aber was war denn jetzt das mit dem neu? War das neu nach acht Jahren, ein Album aufzunehmen?
Bela B.: Ein Album aufzunehmen natürlich nicht, aber das Neue daran war, dieser neu wiedergewonnene Respekt, Liebe zueinander. Das war eine völlig andere Art des Aufnehmens, so hatten wir das gemeinsam noch nicht erlebt, zelebriert. Also, schon war das damals auch, da waren wir auch als Freunde im Studio und haben Dinge gemeinsam gemacht. Und jetzt, in den letzten acht Jahren, haben wir und auch noch mal entwickelt, sind andere Menschen, nicht andere Menschen, sind bessere Menschen geworden vielleicht...
Farin Urlaub: Speak for yourself!
Bela B.: Das war nach dieser Tour, die die Entscheidung bringen sollte, ob wir noch mal ein Album machen oder nicht. Als wir uns dann dafür entschieden haben, fühlte sich das wirklich wie eine neue Band an.

"KFM" - Karnickelfickmusik oder schneller Punkrock

Perkovic: Wir lernen: Acht Jahre Pause sind vielleicht gut für Beziehungen. Nächster Song: "KFM". "Unser Soundtrack für die Bundesrepublik, Karnickelfickmusik." Was ist denn Karnickelfickmusik? Sodomie-Verherrlichung bei den Ärzten wäre ja nicht neu.
Farin Urlaub: Ich habe den Text geschrieben, aber das Wort Karnickelfickmusik kenne ich aus den 80er-Jahren: "Hört doch mal auf mit eurer Karnickelfickmusik", das ist halt der schnelle Punkrock.
Perkovic: Das ist der Rhythmus von dem, was man sich vorstellt, Kopulation unter Nagetieren.
Farin Urlaub: Unter bestimmten Nagetieren, langohrigen Nagetieren. Sonst geht es gar nicht. Rod und ich kannten diesen Ausdruck als ganz normal feststehenden Ausdruck, Bela hielt es für einen Neologismus von mir, das ist es nicht. Es ist einfach ein Wort, was in meinem Soziolekt durchaus auftauchte, wir sind im Deutschlandradio, wir müssen ganz viele Fremdworte einstreuen.
Farin Urlaub: "KFM" ist einfach ein schöner Spaßsong, der das Album erst mal natürlich wieder anschieben soll: Wir kommen nach acht Jahren wieder, es fängt ja auch an mit dem Ende von "Hell", was aus einem fahrenden Auto ertönt. Wie halt Punk ist: Es gibt viele erste Songs auf dem Album, die quasi so einen Teppich ausbreiten: Dieses Jahr geht es uns um Folgendes. Und dann auf diesem Teppich treten dann die drei Artisten auf.

"Anti" - Brennen und explodieren gleichzeitig

Perkovic: Wir haben "Anti", "Brennst du noch oder explodierst du schon". Das ist ein Song zur Gegenwart mit der Wahl zwischen ganz vielen Pest und Choleras. Ist dieses Album dann noch das Feuer – "Brennst du noch? –, oder schon der finale Rettungsschuss - "Explodierst du schon?"
Farin Urlaub: Jedes Album, das kann ich jetzt allgemeingültig für alle Musiker auf der Welt sagen, jedes Album, was man gerade gemacht hat, ist das beste, ist der heißeste Scheiß, ist das Allergrößte.
Perkovic: Das müsst ihr ja sagen!
Farin Urlaub: Nee, das müssen wir so empfinden, weil: Wenn wir ins Studio gehen und sagen, lass uns mal etwas richtig Mittelmäßiges machen, so noch schlechter als sonst, das funktioniert nicht. Man muss der ernsthaften Überzeugung sein, dass das jetzt gerade das bestmögliche Album ist. Was man dann zwanzig Jahre später darüber denkt – wir sind ja so alt, dass es tatsächlich über zwanzig Jahre alte Alben von uns gibt – das steht auf einem anderen Blatt, aber du musst diese Überzeugung haben. Deswegen, ja, natürlich, ich brenne noch und explodiere schon gleichzeitig. Ich bin relativ groß, ich kann unten noch brennen, wenn ich oben schon explodiere.
Bela B.: Vielleicht kann man noch hinzufügen, dass der Song auch insofern interessant ist, dass er eigentlich für "Hell" vorgesehen war. Und kurz bevor das ins Presswerk ging, haben wir uns entschieden, den auszutauschen gegen einen anderen Song.
Farin Urlaub: Bela kam an und sagte, pass auf, ich habe mir was überlegt. "Anti" ist echt ein Supersong, aber meinst du nicht, an der Stelle wäre der doch viel besser. Ja, okay, gut. Da beide von mir waren, war ich einverstanden.

"Dunkel" - geheimnisvoll und im Zweifel sexy

Perkovic: "Dunkel" heißt dieses Album, "Ich will das Dunkel und was es mit dir macht". Was macht es denn?
Bela B.: Ausschließlich gute Dinge. Das ist wahrscheinlich mit das Geheimnisvollste an dem Text. Es geht halt um die Liebe zum Dunklen, zum Schwarzen. Und der Text ist typischerweise von mir, das hat ja durchaus eine Tradition bei den "Ärzten", dass so etwas von mir kommt. Das Riff ist von Rodrigo, ich habe daraus den Song weitergeschrieben.
Farin Urlaub: Im Prinzip geht es um den alten Satz von Molière, 'dans la dunkel, c'est bon münkel'.
Bela B.: Ich fand tatsächlich: Zu den Aufzählungen und immer der Erwähnung der Eltern in den Strophen, da brauchte ich noch irgendetwas ein bisschen Vages im Refrain, was vielleicht auch ein bisschen geheimnisvoll und im Zweifel sogar sexy ist.

"Doof" - Das Plus an Energie von negativen Leuten

Perkovic: Dann kommen wir jetzt zum politischen Teil und zu "Doof". Da meine ich die Stelle: "Was ist eigentlich grad los, warum beschäftigen wir uns bloß mit so viel Unfug, was ist denn der Grund, muss denn unser Hirn verrosten von dem Bullshit dieser Pfosten, das wär' auf Dauer nicht gesund, es gibt Leute, die glauben, dass die Welt eine Scheibe ist und Homosexualität soll heilbar sein, Menschen flüchten, nur um uns die Arbeit wegzunehmen und den Klimawandel bilden wir uns ein, oh nein, oh nein, doof bleibt doof, da helfen keine Pillen, nicht beim allerbesten Willen."
Was ist denn der Grund, dass wir uns so viel Doofem beschäftigen?
Farin Urlaub: Darf ich bitte antworten? Es ist dein Text, aber … Es gibt ganz tolle Gründe, der eine ist selbsterklärend, die haben einfach mehr Zeit und mehr Energie. Negative Leute haben immer mehr Energie als Leute, die einfach nur Sachen gut finden. Bertrand Russell war es, glaube ich, der etwas ganz, ganz Schlaues gesagt: Dumme Menschen sind sich ihrer Sache immer total sicher, die Schlauen sind zweifelnd und vorsichtig. Und deswegen hört man den dummen Menschen zu. Jetzt darfst du.
Perkovic: Wir haben das ja bei den Triellen gelernt, Redeanteile, ich achte jetzt auch bald drauf. Farin, Sie sind da jetzt ganz klar davongezogen.
Bela B.: In dem Song geht es in der ersten Strophe um Nazis, die werden ganz klar benannt, das auch mit einem kleinen Zitat von Wiglaf Droste; und in der zweiten geht es ganz offensichtlich, das hast du ja gerade vorgelesen, um Querdenker oder einfach die Leute, die halt wirren Quatsch verbreiten, auf sozialen Medien und sonst wie. Und das passte grade alles so ganz gut in das Lied. Und das ist trotzdem ein sehr positives Lied, eines meiner witzigsten Lieder auf der Platte, ich glaube, das einzige witzige Lied von mir auf der Platte.

"Schweigen" - einen Zacken Aufmerksamkeit wegziehen

Perkovic: Aber wenn noch nicht mal beim allerbesten Willen Pillen helfen, was hilft denn? "Weil Schweigen ändert nichts". Also was hilft?
Bela B.: Ich bin der Meinung, man sollte einen ganzen Zacken seiner Aufmerksamkeit auch mal da wegziehen. Irgendwann wird es zu hanebüchen. Ich meine, es gibt auch genügend Leute, die wirklich erzählen, die Erde ist eine Scheibe, beweis mir doch erst mal, dass es nicht so ist. Und dann wollen sie aber auch eigentlich die Wahrheit gar nicht hören. Wenn du sowieso nicht antworten kannst, warum musst du dir den Mist vorher anhören? Das ist ein Plädoyer dafür, sich einfach ein bisschen mehr Leichtigkeit zu gönnen und sich einfach mal wichtigeren Dingen zuzuwenden.
Perkovic: Das ist nicht so leicht, Aufmerksamkeit wegzulenken, gerade in sozialen Plattformen, die Aufmerksamkeit dafür algorithmisch ja besonders verstärken.
Bela B.: "Schweigen ändert nichts" war ursprünglich tatsächlich auch als politisches Lied konzipiert, weil die Zeile das ja durchaus hergibt im Refrain. Aus gewissen Gründen und Gefühlen heraus empfand ich dann – ich habe mehrere Texte dazu geschrieben –, empfand ich dann einen persönlichen Text über Sprachlosigkeit in einer Beziehung passender in dem Moment.

"Our Bassplayer Hates This Song" - eine schlimme Diagnose

Perkovic: "A bassplayer hates this song": "Immer nur zu meckern auf das blöde Scheißsystem, das ist schön bequem, du bist nicht Teil der Lösung, du bist selber das Problem und feige außerdem, sei nicht so unsportlich, es geht nicht ohne dich, so funktioniert das nicht, es geht nicht ohne dich" – Punkrocker werben fürs Wählengehen. Das ist ja eigentlich traurig, oder?
Bela B.: So wie du das grade gesagt hast, komme ich mir total klein und schäbig vor: Punkrocker werben also fürs Wählengehen – so, so, du Mistforke!
Perkovic: Nein, aber das zeigt ja eigentlich, wenn das Wählengehen das ist, wofür Punkrock sich einsetzt, dann ist es sehr schlecht bestellt um das Wählengehen, so meine ich das ...
Farin Urlaub: Du meinst, wenn schon wir, wenn schon der Bodensatz der Gesellschaft schon dafür Werbung macht …
Perkovic: Wenn die Leute, die sich eigentlich für das irgendwie Progressive, Originäre, Selbstgemachte, Gegen-den-Strich-Gebürstete in der Gesellschaft eingesetzt haben, wenn die jetzt sagen müssen "Geh doch mal wählen", dann ist das ja eine schlimme Diagnose.
Farin Urlaub: Ja, ist es. Der Grund dafür war, dass ich das Gefühl habe – und auch nach vielen Gesprächen mit unterschiedlichsten Menschen –, dass Demokratie mittlerweile oft als etwas Lästiges, sowieso Gegebenes gilt. Da muss man gar nichts für tun, Demokratie ist da, nervt halt nur, will ständig unsere Aufmerksamkeit. Und ich hatte ja das Privileg, in meinem Leben sehr, sehr viel zu reisen, auch in Diktaturen, echte Diktaturen, also nicht die "Merkel-Diktatur", die "Corona-Diktatur", sondern echte Diktaturen, wo man, wenn man seine Meinung sagt, einfach erschossen wird. Ich möchte nicht, dass Deutschland so wird. Und deswegen musste so ein Text her. Rod hasst das Lied, die Musik nicht, er hasst den Text, weil er sagt, wir können doch nicht jetzt den Erklär-Bär machen, wir sind Die Ärzte. Und Bela findet es genau deshalb lustig, denn damit rechnet ja keiner.
Bela B.: Es ist quasi die Metaebene, die ich da sehe. Das ist ein totales Tabu für eine Band wie Die Ärzte, dass wir das machen. Da kommen wir dann auch auf die These von eben: Das geht doch nicht, dass Die Ärzte jetzt plötzlich erklären, wo die doch immer so völlig frei waren, völlig im freien Fall, man nie wusste, wo die aufschlagen würde – und jetzt machen wir halt genau das Gegenteil und machen die ganze Sache noch diffuser dadurch.
Perkovic: Ich bin total froh, ich finde, wir sind in einer komplett anderen Zeit. Ich meine, Die Ärzte habe ja wirklich Jahrzehnte der Bundesrepublik begleitet, dann hatten wir irgendwie die 80er, hat keinen interessiert; die 90er, was wollen wir eigentlich, und jetzt sind wir halt in den 20er-Jahren, und es ist einfach für mich nicht mehr so, wie es ist, insofern: Danke!
Bela B.: Punkrock ist natürlich die Prägung unserer Jugend. Und der Teil des Punkrock, der hat wirklich mit Jugend einfach verbunden, das ist rebellieren. Wir sind jetzt verantwortungsvolle, erwachsene Männer, das auch schon länger, wir gehen schon in Richtung erwachsene Opis – erwachsen dann wohl doch nicht so richtig – aber dass wir halt sehr oft auch Verantwortung übernehmen. Das Einzige, worauf wir beim Punkrock nach wie vor bestehen, ist die Freiheit, einfach unsere Gedanken schweifen zu lassen und auch jede Menge Unsinn zu machen.
Farin Urlaub: Dazu, zu tun, was du willst, kann halt auch gehören, dass man sich mal staatstragend benimmt.

"Kerngeschäft" - Klickfarmen und Dieter Bohlen

Perkovic: Für die Demokratie zu sein, ist ja staatstragend. Es geht jetzt um ein anderes System in der nächsten Frage, Kerngeschäft. "Na und, na und, Musik ist älter als Kapitalismus, was soll's, na und, Musik ist älter als Kapitalismus." Was wäre denn ein antikapitalistischeres Musikindustriemodell – oder geht es gerade in dem Song darum, Musik nicht als Vermarktungsobjekt zu sehen?
Bela B.: Letztendlich ist der Sinn unter dem Strich, dass Musik immer existieren wird und alles überleben wird. Was es zurzeit einfach schwer macht, noch wirklich gute Musik aus dem ganzen Mist herauszupicken. Es sind halt gerade über Streaming und so sehr viele Vermarktungskonzepte. Klickfarmen in Thailand sorgen dafür sorgen, dass gewisse Leute immer auf Platz eins der Charts sind – und später behaupten, sie hätten mehr Nummer-eins-Hits als die Beatles. Lauter solche Sachen und eigentlich wird so was ja als Geldwäsche benutzt.
Perkovic: Und am Ende kommt ein Eistee dabei raus?
Bela B.: Jetzt haben wir es fast benannt. Vor Jahren noch haben wir Castingshows verteufelt, weil der Zuschauer denkt, wie haben wir es gesagt, der Zuschauer denkt, Musik ist etwas komplett Erlernbares. Dann gehst du halt hin und bringst da dein erlerntes Wissen an den Mann und bist dann auch automatisch erfolgreich. Und dann erzählst du auch noch, ich bin nur für die Fans da, das ist die große Liebe – und das ist alles nur inszeniert. So ist aber das aus unserer Sicht nicht und so ist es für verdammt viele Leute nicht. Deshalb wird Musik all den Mist überleben: Dieter Bohlen ist nicht mehr bei "DSDS", aber Musik gibt es immer noch, er hat es nicht geschafft.
Perkovic: Es kaputtzumachen?
Bela B.: Ja.

"Anastasia" - Toxische Männlichkeit im Punk

Perkovic: Letzter Song, "Anastasia". "Anastasia, ich bin hier, doch du bist nicht mehr da, Anastasia, ich weiß, du warst so kalt wie Eis und ganz wunderbar, Anastasia, mein Selbstbewusstsein ist gerade in Gefahr, meine nächste Frau wird wieder aufblasbar." Die Ärzte sind, mal abgesehen vom Lied "Die fette Elke" – mittlerweile oder irgendwie auch schon immer das feministischste Männertrio – und zwar deshalb, weil sie so über das Wesen der Männer reflektieren und zugeben, wie viel Armseligkeit da drinsteckt, wie viel Getriebenheit und alles Mögliche.
Farin Urlaub: Ich sehe jeden Morgen dieses jämmerliche Wesen im Spiegel, wie soll mich das nicht inspirieren zu solchen Texten.
Bela B.: Das war tatsächlich in den 80ern, Ärzte Mach 1 quasi, mal anders
Perkovic: Da hatte Claudia ihren Hund, ich sage ja, Sodomie und …
Bela B.: Da waren wir sexistische Lausbuben. Und da haben wir auch große Anfeindungen erfahren bis hin zu Demonstrationen gegen uns.
Farin Urlaub: Ich habe Buße getan mit "Männer sind Schweine"
Perkovic: Aber im Laufe der Jahre hat es sich verändert, und ihr seid bei der Beschreibung drangeblieben. Und allein dieser Akt, genau zu beschreiben, was da ist, ist ja feministisch. Die Frage ist, wie hat sich eure Analyse des Mann-Seins verändert im Laufe der Jahrzehnte?
Bela B.: Das wollte ich grad sagen, wir waren ja fünf Jahre auseinander. Das war auch so gemeint, wir wollten auch keine Musik mehr zusammen machen. Und dann sind wir doch eines Besseren belehrt worden, du hast mich eines Besseren belehrt. In den fünf Jahren ist halt viel passiert, wir waren noch extrem jung. Und als wir wieder zusammenkamen, hatten wir gleich "Mondo Bondage" – ich weiß nicht, ob es erst auf Planet Punk das erste Lied war, über toxische Männlichkeit, was man damals noch nicht so nannte. Und ja, das war dann so eine Tradition, die immer wieder auftauchte. Gab es auf "Bestie" auch so ein Lied?
Farin Urlaub: Ich überlege gerade. "Die Allerschürfste" vielleicht? Nein, es ist tatsächlich … Also das Bild von dem Mann bei "Anastasia", den habe ich tatsächlich mal gesehen in einem Restaurant. Und ich saß wirklich sprachlos am Tisch daneben und dachte, du musst jetzt alles mitschneiden, diesen ganzen Gestus, den Duktus, den Habitus, das musst du alles in ein Lied packen.
Bela B.: Jetzt frage ich mich aber noch, ob der, den du da gesehen hast, ob der auch Restaurant sagen würde oder Kneipe.
Farin Urlaub: Das war keine Kneipe, das war sogar ein ziemlich gehobenes Restaurant. Es war so widerlich bis ins Letzte.
Bela B.: Ich habe auch mal so jemanden in einem Restaurant gesehen, der wahrscheinlich Bauunternehmer war oder so, der den ganzen Laden unterhalten hat. Es liefen die Tränen vor Lachen, das war echt unfassbar, weil er so laut geredet hat. Dann kamen irgendwann, er hatte seinen Sohn und dessen Freundin eingeladen, wahrscheinlich die Eltern geschieden, das habe ich alles so vermutet vom Nebentisch. Und sie ging dann auf die Toilette, als sie wiederkam, sagt der ganz laut, "Na, warst du pullern?" Fand ich sehr schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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