Neue Spielzeit am Wiener Burgtheater

Viel mehr als Österreichs Nationaltheater

07:17 Minuten
Fünf Schauspieler in dämmerigem Licht.
Im September wird in Österreich gewählt: Wie politische Verführung funktioniert, bringt Ulrich Rasche mit "Die Bakchen" auf die Bühne. © Andreas Pohlmann/Burgtheater
Von Christoph Leibold · 13.09.2019
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Unter dem neuen Intendanten Martin Kušej zeigt sich das Burgtheater in Wien mit den Stücken "Vögel" und "Die Bakchen" kosmopolitisch und angriffslustig. Das Publikum dankt und nimmt die Inszenierungen freundlich bis euphorisch ab.
Martin Kušej hat sich viel vorgenommen. Vor allem möchte er weg von der Vorstellung, dass Wiener Burgtheater sei Österreichs Nationaltheater, hin zu einer kosmopolitischeren Idee. Das landauf, landab viel gespielte Stück "Vögel" des libanesisch-stämmigen Frankokanadiers Wajdi Mouawads ist da natürlich genau der richtige Stoff, erzählt es doch in vier Sprachen – Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch – vom konfliktträchtigen Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion. Sie alle stellen sich Fragen nach ihrer Identität.

Ein Paar bereist den Nahen Osten

Ausgangspunkt ist die Begegnung von Eitan und Wahida in New York. Er ist Sohn einer jüdischen Familie aus Deutschland, der in den USA studiert; sie Amerikanerin mit arabischen Wurzeln. Eitan und Wahida verlieben sich ineinander, sehr zum Missfallen von Eitans Vater, dem Sohn eines Holocaust-Überlebendenden.
Ein junges Paar steht vor einer Wand. Die Frau blickt ins Publikum, der Mann umarmt sie. Im Hintergrund arabische Schriftzeichen an einer Mauer.
Wajdi Mouawads "Vögel" in der Regie von Itay Tiran© Matthias Horn/Burgtheater
Eitan allerdings findet heraus, dass dieser Mann gar nicht sein leiblicher Großvater ist. Um seiner Familiengeschichte auf die Spur zu kommen, reist Eitan nach Jerusalem, wo er bei einem Terroranschlag schwer verletzt wird. Wahida, die ihn begleitet, entdeckt auf der Reise indessen ihre verdrängte arabische Identität wieder. Mouawads Plot wartet noch mit einer Reihe weiterer solcher Wendungen auf. Stets spielen dabei die Last der Vergangenheit und die Konflikte der Gegenwart zusammen.
Ein Mensch liegt auf einem Krankenhausbett und blickt nach oben. Im Hintergrund sein visualisierter Herzschlag.
Wajdi Mouawads "Vögel" in der Regie von Itay Tiran© Matthias Horn/Burgtheater
Verpackt ist das alles in ein klassisches Konversationsdrama. Der israelische Regisseur Itay Tiran bedient diese Well-Made-Dramaturgie. Vier mit atmosphärischen Mustern, Nachrichtenbildern und Stadtkulissen bespielte, verschiebbare Videowände, schaffen auf der Bühne des zum Burgtheater gehörigen Wiener Akademietheaters wechselnde Raumsituationen.

Schauspieler spielen sich selbst

Das ermöglicht fließende Übergänge zwischen den unterschiedlichen Schauplätzen der Handlung, die zwischen New York, Berlin und Jerusalem switcht. Dass Tiran mit dieser glatten Ästhetik und Dramaturgie, die freilich schon in Mouawads Stück angelegt ist, Sehgewohnheiten bedient, die am Fernsehkonsum geschult sind, ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Gespielt wird im Modus des Psychorealismus eines eher wenig innovativen TV-Mehrteilers.
Eine Frau in dunkler Uniform und mit einem Maschinengewehr spricht mit einem Mann in Zivil.
Wajdi Mouawads "Vögel" in der Regie von Itay Tiran© Matthias Horn/Burgtheater
Auch die Besetzung mit Schauspielern mit deutscher, israelischer und arabischer Herkunft versucht, Realbedingungen zu schaffen. Die Idee ist nachvollziehbar, dient sie doch als Beglaubigung des Projekts: Am überzeugendsten erzählt man über die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, indem man tatsächlich solche Begegnung auf der Bühne stiftet.
Gleichwohl ist der Ansatz nicht ohne Schwächen. Ein Theater, das Schauspieler mehr oder minder als das besetzt, was sie sind oder wonach sie aussehen, legt sie immer auch auf entsprechende Identitäten fest. Einen bedeutenden Schritt weiter ist das Theater dort, wo jede und jeder alles spielen kann, unabhängig von Herkunft und Aussehen.

Vom Laufband auf die Bühne

Aber das gibt der psychorealistische Zugriff von Stück und Inszenierung schlechterdings nicht her. Insofern sind die Vorbehalte gegen diese Spielform nicht nur eine Geschmacksfrage. Itay Tirans Inszenierung macht ungewollt auch deren Beschränkung sichtbar.
Was Ulrich Rasche angeht, der die Intendanz Martin Kušejs im Burgtheater eröffnete, so ist psychologischer Realismus sicher nicht sein Thema. Rasche bedient ein erfreulich nicht-hohles Pathos und baut gigantische Bühnenmaschinen, um dieses, im wahrsten Sinne des Wortes, zu transportieren. Für das antike Euripides-Drama "Die Bakchen" hat er sich drei riesige Laufbänder ausgedacht, auf dem die Darsteller ununterbrochen marschieren.
Über ein Dutzend Schauspieler auf verschiedenen Ebenen in dämmerigem Licht
Euripides‘ "Die Bakchen" in der Regie von Ulrich Rasche Burgtheater© Andreas Pohlmann/Burgtheater
Zu Beginn schreitet Franz Pätzold einsam auf einem dieser Bänder einher – wie der Erzschurke, der zu High Noon auf staubiger Straße in die Westernstadt einzieht. Pätzold spielt Dionysos, den Gott des Rausches, auch Bakchos genannt, der gekommen ist – wie sich bald schon herausstellen wird – um sich "sein Land zurück zu holen". Ein längst überwunden geglaubter Ungeist zieht mit ihm in Theben ein, der sich epidemisch ausbreitet. In den Bakchen findet Dionysos rasch eine fanatische Gefolgschaft.
Herrscher von Theben ist Pentheus, bei Euripides ein kalter Machtmensch. Vor dem Hintergrund eines grassierenden Rechtspopulismus in Europa kehrt Ulrich Rasche jedoch die Verhältnisse um. Wo zunehmend mit gefühlten Wahrheiten argumentiert wird, kann ein wenig kühle Rationalität nicht schaden.

Die Angst vor der Wahl

Und so ist Felix Rech als Pentheus in dieser ebenso überraschenden wie überzeugenden Umdeutung die Stimme der Vernunft; ein aufrechter Demokrat, der hier zum Showdown mit Massenverführer Dionysos antritt, munitioniert mit Worten, die nicht durchweg mit der Rasche-typischen chorischen Wucht zu monumentaler Minimal-Music skandiert werden, sondern immer wieder auch in ruhiger Eindringlichkeit. So wirkt diese Inszenierung nicht in erster Linie durch ihre Überwältigungsmomente, sondern erzeugt mitunter einen subtilen Sog.
Am Ende des Stücks unterliegt die Vernunft der Raserei. Die Aufführung aber ist ein Gewinn fürs Theater. "Die Bakchen" wurde vom Wiener Publikum weitgehend freundlich aufgenommen, "Vögel" im Akademietheater sogar geradezu euphorisch beklatscht.
Ende September freilich wird gewählt in Österreich. Eine erneute Beteiligung der FPÖ an der Bundesregierung scheint nicht unwahrscheinlich. Dass Martin Kušejs Abkehr vom Nationaltheatergedanken den Beifall der Rechtspopulisten findet, ist schwer vorstellbar.
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