Neue deutsche Wörter

Muffintops um die Sprachhüften

04:01 Minuten
Illustration: "Stay Woke" als Comicsprechblase.
"Woke" ist eines der Neuwörter, die das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache nun zu unserem Wortschatz zählt. © Getty Images / iStockphoto
Eine Glosse von Arno Orzessek · 06.12.2021
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Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache hat neue Wörter vorgestellt, von denen es glaubt, dass sie uns erhalten bleiben, bereits zum Wortschatz gehören. Darunter: Flanking, woke, Frostkerze, Hackathon, Menemen, Stilettonagel, Strabs. Alles klar?
Kümmern wir uns zunächst um "Erstaufnahmeeinrichtung" – eines der 127 Wörter, die in diesem Jahr neu ins digitale Neologismenwörterbuch aufgenommen wurden.
Erstaufnahmeeinrichtung wird dort erläutert als „offizielle erste Anlaufstelle und Unterkunft zur Registrierung und Versorgung von Asylbewerbern“. So weit, so gut, könnte man sagen.
Aber falls Sie entschieden woke sind – auch "woke" ist ein Neuzugang –, werden Sie natürlich beklagen, dass das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache nicht von Asylbewerber:innen spricht. Dass es also nicht gendergerecht formuliert, obwohl es "gendergerecht" ebenfalls zu den Neologismen zählt, die – wie es heißt – „bereits eine gewisse Ausbreitung erfahren“ haben.

Der letzte Schrei

Uns verblüfft etwas anderes. Nämlich, welch exotischen Kandidaten das Institut als Erstaufnahmeeinrichtung für Neuwörter dauerhafte Unterkunft im Deutschen in Aussicht stellt.

Machen wir einen Test! Wie viele der folgenden Wörter, die offenbar zum letzten Schrei in unserer Sprache gehören, sind Ihnen tatsächlich vertraut? Balayage, Bezness, Calligraphcut, Ecobrick, Flanking, Frostkerze, Hackathon, Menemen, Stilettonagel, Strabs.

Falls Sie komplett im Bilde sind: Glückwunsch! An Ihnen ist ein Bruder Grimm verloren gegangen – oder eine Schwester. Auch wer - mit einem der frischen Neologismen - "nichtbinär" ist, darf sich hier  angesprochen fühlen.
Wir selbst mussten die Bedeutung fast aller genannten Wörter in den Erläuterungen nachschlagen.
Calligraphcut ist nicht etwa eine Kalligraphie-Technik, sondern ein Haarschnitt; Frostkerze kein rotköpfiger Trinker im Winter, sondern eine Lampe, die Pflanzen wärmt; Flanking kein fußball-denglischer Sprachunfug, sondern laut Erläuterung „das Zeigen des nackten Knöchels zwischen Schuh und Hosenbein“.
Aha! Flanking also.

Im Mittelpunkt: Essen und Digitalisierung

Andererseits gibt's auch altdeutsch klingende Neuzugänge wie "Familienarbeitszeit", "Pflegegrad", "Enkeltag" oder "Meinungskorridor".
Viele Neuwörter, darunter "Betrugssoftware", "Cyberabwehr" oder "Löschzentrum", kreisen um die Digitalisierung. Bei auffallend vielen anderen, wie "Chlorhuhn", "Fleischdrink" oder "ovovegetarisch", geht es ums Essen und dessen Folgen:
Quillt über dem Hosenbund sichtbar das Bauchfett, heißen Rettungsringe jetzt offenbar - wie süß! - "Muffintops".
Ach ja: "Mikromobilität" nimmt das Institut zwar auf, verschweigt aber die Bedeutung, die man sich ergoogeln muss: Gemeint ist Fortbewegung per Tretroller, E-Scooter, Segway und so.
Insgesamt jedoch geht das Institut gewissenhaft vor. Neben den frisch und schon früher kanonisierten Neologismen verzeichnet es auch „Wörter unter Beobachtung“ - klingt stasimäßig, ist aber sicher lieb gemeint.

Der Stoffwechsel der Sprache

Die Liste liest sich unterdessen, als hätte der Zeitgeist Logorrhoe: "Deepfake", "Frenemy", "Infodemie", "trumpen", "fronten", "hullern", "Everesting", "Gaslighting", "Instarexie", "Snackification", "Nipster", "niksen".
Für die Älteren unter uns, so ab 24 Jahren: niksen hieß früher nichts tun ... und alles Weitere lernen Sie noch, falls es je relevant wird. 
Aber so ist das: Wer die Finger am Puls der Zeit haben will, muss den Stoffwechsel der Sprache kennen – und die ernährt sich nun einmal gern von Neologismen.
Dass sich das Deutsche dabei immer feistere Muffintops um die Sprachhüften zulegt, tja, das spricht wohl für gute Futterverwertung.

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