Neue Migrationsstudie

Zuwanderer dringend gesucht

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Drei junge Flüchtlinge arbeiten im Ausbildungszentrum der Siemens Professional Education an der Verdrahtung eines Schaltschranks.
Fachkräfte gesucht: Drei junge Flüchtlinge arbeiten im Ausbildungszentrum von Siemens. © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Reiner Klingholz im Gespräch mit Stephan Karkowsky  · 03.07.2019
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Die Politik steht vor einer doppelten Herausforderung, zeigt eine neue Migrationsstudie. Einerseits muss sie illegale Einwanderung kontrollieren - andererseits aber auch attraktive Bedingungen für Zuwanderer schaffen, die als Fachkräfte benötigt werden.
Stefan Karkowsky: Carola Rackete ist frei. Ein italienisches Gericht ordnete gestern ihre Entlassung an aus dem Hausarrest. Der zivile Ungehorsam der Seawatch-Kapitänin hat viel in Gang gesetzt und das Thema Seenotrettung wieder ganz nach vorn gebracht. Passend dazu veröffentlicht heute (3.7.19) das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie zur Zukunft der globalen Migration. Und die könnte man auf die grobe Schlagzeile reduzieren: Wir brauchen in Europa nicht weniger, sondern mehr Zuwanderung. Reiner Klingholz, Sie leiten das Institut. Würden Sie meiner Schlagzeile zustimmen?
Reiner Klingholz: Das ist im Prinzip richtig, denn Europa ist von allen Regionen der Welt im demografischen Wandel am weitesten fortgeschritten. Das heißt, bei uns in Europa ist die Bevölkerung am stärksten gealtert und die Nachwuchszahlen sind am geringsten. In den nächsten 15 Jahren wird sich die geburtenstarke Gruppe der Babyboomer in allen Ländern Europas in den Ruhestand verabschieden, das heißt allein für Deutschland, dass wir bis 2030 etwa fünf Millionen weniger Erwerbsfähige haben werden.

Druck von außen versus Nachfrage

Karkowsky: Ihre Studie trägt den Titel "Europa als Ziel?". War das Ihr Hauptanliegen, zu prüfen, wie viele Migranten die Absicht haben, nach Europa einzuwandern?
Klingholz: Na ja, die Frage ist einmal, wie groß ist der Migrationsdruck? Also wir wissen, dass viele Regionen der Welt noch ein starkes Bevölkerungswachstum haben, dass das Wirtschaftsgefälle, das Arbeitsplatzgefälle zu diesen Regionen sehr groß ist, dass es also Gründe gibt für die Menschen in diesen Ländern, in eine Region zu kommen, wo es ihnen möglicherweise besser geht. Das ist das eine. Das ist der Druck von außen, aber die Nachfrage von innen ist das andere.
Die Politik hat jetzt die schwierige Aufgabe, irgendwie ein Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage hinzukriegen, denn so lange das Angebot größer ist als die Nachfrage, und das ist auf absehbare Zeit erst einmal so, muss man politisch schwierige Entscheidungen treffen. Einerseits geht es darum, die Grenzen so weit dicht zu machen, dass die irreguläre Migration nach Europa halbwegs kontrolliert werden kann, und andererseits geht es darum, sich so offen zu machen und so attraktiv zu machen, dass man die Zuwanderer bekommt, die die Unternehmen brauchen, und da geht das um Fachkräfte aller Art, das ist von Hilfen in der Landwirtschaft bis hin zu den Pflegekräften und zu den vielzitierten IT-Fachkräften und Ingenieuren.

Nicht jeder hat die Chance zu gehen

Karkowsky: Nun listet Ihre Studie sehr genau auf, welche finanziellen Verhältnisse Migration bedingen. Die ganz Armen können es sich nicht leisten, sagen Sie, die Wohlhabenden bleiben zu Hause. Wer kommt denn dann und wie viele?
Klingholz: Also, wenn man sich die Zahlen anguckt, dann sieht man, dass weltweit nach Umfragen 750 Millionen Menschen sagen: Wenn ich die Chance hätte, in ein anderes Land zu gehen, um dort zu arbeiten, würde ich das machen. Das sind 15 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung, das ist erst einmal eine unglaubliche Zahl. Aber wenn man dann schaut, wer plant das, wer kann das, wer hat die finanziellen Möglichkeiten, wer hat die organisatorischen Möglichkeiten, dann ist es nur noch ein halbes Prozent der Weltbevölkerung, nämlich 23 Millionen Menschen, die jedes Jahr tatsächlich konkrete Schritte unternehmen für eine Wanderung in ein anderes Land.
Karkowsky: Und wollen die alle in die Festung Europa?
Klingholz: Die wollen überall hin. Also sehr viele wollen von Lateinamerika nach Nordamerika. Aus Afrika, aus Nordafrika, aus dem Nahen Osten wollen viele nach Europa, schlicht und einfach, weil das das nächste Ziel ist. Aber aus Asien beispielsweise wollen relativ wenige nach Europa, die Menschen aus Asien gehen, wenn sie irgendwo arbeiten, dann eher in den Nahen Osten, dort in die reichen Ölscheichtümer, oder nach Kanada, nach Australien, nach Amerika. Europa ist ein Ziel, aber nicht das Ziel.

Die Gründe für Migration vermischen sich

Karkowsky: Müssen wir uns eigentlich von der Vorstellung dann verabschieden, dass Wirtschaftsflüchtlinge, die nur ein besseres Leben suchen, gegenüber den Kriegsvertriebenen Flüchtlinge zweiter Klasse sind?
Klingholz: Das wird immer schwieriger, diese beiden Gruppen auseinanderzuhalten, denn auch Menschen, die aus Syrien fliehen, haben natürlich wirtschaftliche Gründe. Sie haben in Syrien keinen Arbeitsplatz mehr, dort herrscht Krieg oder Unruhe jeder Art, und sie haben vielleicht ihr Unternehmen verloren, das ausgebombt ist. Also die Gründe vermischen sich immer stark, und das macht es auch so schwer, da dann klare Entscheidungen zu treffen, ob jetzt jemand ein sogenannter Wirtschaftsflüchtling ist, ob er ein legaler Migrant ist. Aber das ist dann was anderes, weil er dann aufgrund der Regelung das Recht hat, ein Visum, ein Arbeitsvisum und ein Aufenthaltsvisum in Deutschland zu bekommen, bevor er überhaupt losfährt in seinem Land.
Karkowsky: Nicht nur Deutschlands Gesellschaft altert, es geht anderen europäischen Ländern ja auch so, und wenn das so ist, wenn wir die Migration brauchen, wird es dann in Zukunft nicht mehr um Abschottung gehen, sondern vielmehr um einen Wettstreit, welches Land sich für Migranten am attraktivsten macht?
Klingholz: Ja, das ist genau das Problem, dass wir gleichzeitig eine Abschottungspolitik erleben und den Wettbewerb haben, und zwar den Wettbewerb auf internationaler Ebene. Es gibt gerade in Asien einige Regionen, das ist Japan und Korea, jetzt schon, die Zuwanderung benötigen, die sind in einer ähnlichen demografischen Situation wie wir, und das nächste große Land ist China. China hat 1,4 Milliarden Einwohner und verliert bereits seit einigen Jahren Arbeitskräfte durch die Alterung. Das heißt, China lockt heute schon Migranten an und wird in Zukunft deutlich mehr Migranten anlocken. Das heißt, gerade um die begehrten Fachkräfte werden wir einen wachsenden internationalen Wettbewerb bekommen. Das gilt für die Ingenieure bis zu den Pflegekräften.

Eine einheitliche EU-Position ist nötig

Karkowsky: Aber was bedeutet das für die Politik einer Europäischen Union, wo eher, in Anführungsstrichen, fremdenfeindliche Länder wie Polen oder Ungarn jetzt schon mit ihrer Abschottungspolitik die Europäische Union blockieren?
Klingholz: Zwei Dinge. Erstens: Wir brauchen dringend eine einheitliche europäische Position in Sachen Zuwanderung. Und zwar gilt das sowohl für die humanitäre Zuwanderung, also dass man Menschen in Not entsprechend den internationalen Regeln Asyl gewährt, und andererseits eine koordinierte Zuwanderungspolitik für die Arbeitsmärkte, denn auch die Länder, die sich heute gegen Zuwanderung jedenfalls verbal wehren, Polen oder Ungarn, die sind in einer ähnlichen Lage wie wir, was die Alterung der Bevölkerung anbelangt. Auch die brauchen Zuwanderer, und in Polen ist das auch der Fall. Dort kommen die meisten Zuwanderer allerdings aus der Ukraine, aber das wird in der großen Öffentlichkeit relativ wenig diskutiert.
Karkowsky: Mehr Migration löst natürlich nicht das Problem von Nationalismus und Rassismus. Im Gegenteil: Wie soll denn die Politik ihre Erkenntnisse jenen Bürgern verkaufen, die Angst haben davor, sich bald fremd zu fühlen im eigenen Land?
Klingholz: Ich glaube, da ist es ganz sinnvoll, sich auf die Situation vor 2015, also vor der großen Fluchtmigration aus Syrien und so weiter, zu besinnen. Da waren wir schon etwas weiter. Denn damals waren es vor allem die Unternehmen, war es die Wirtschaft, die den Menschen klar gemacht hat, dass wir Zuwanderer brauchen. Also, die haben, jetzt mal ganz vereinfacht gesagt, den Bürgerinnen und Bürgern erklärt: Wenn wir keine Zuwanderer haben, können wir euren Mercedes oder euren BMW nicht mehr bauen. Und dann ist, glaube ich, sehr vielen Menschen klar geworden, dass es für unser Wirtschaftsgeschehen in Deutschland schlicht und einfach unerlässlich ist, dass wir Zuwanderer haben und die auch möglichst schnell als Bürgerinnen und Bürger integrieren in unser Land, damit die Wirtschaft weiter so bestehen kann, wie wir es kennen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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