Neue Altstadt in Frankfurt am Main

"Eine Art historischer Zaubertrick"

Neue Frankfurter Altstadt (19.9.2018).
Alles eine Frage der Perspektive: Blick in die neue Frankfurter Altstadt © dpa-news / Frank Rumpenhorst
Valentin Groebner im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 28.09.2018
Mit einem großen Fest feiert Frankfurt am Main am Wochenende seine neue Altstadt. Es sei keineswegs neu, sich nach der Vergangenheit zu sehnen, sagt der Historiker Valentin Groebner. Rekonstruktionen trügen immer die Spuren ihrer Entstehungszeit.
Im März 1944 wurde die Altstadt von Frankfurt am Main bei einem Bombenangriff zerstört. 74 Jahre später gibt es ein neues Altstadt-Quartier: 35 Häuser, darunter 15 Rekonstruktionen historischer Gebäude, sind im Stadtzentrum zwischen Dom und Römer neu entstanden.
Das Dom-Römer genannte Areal ist bereits seit Mai öffentlich zugänglich. Seitdem strömen die Besucher. Am Wochenende feiern die Frankfurter die neue Altstadt mit einer Vielzahl von Veranstaltungen.
19.09.2018, Hessen, Frankfurt/Main: Von einem Dachfenster ergibt sich ein Blick auf den Hühnermarkt im Herzen der Frankfurter Altstadt. Die Eröffnungsfeier der rekonstruierten Altstadt findet vom 28.09. bis zum 30.09.2018 statt. (zu dpa «Frankfurter Altstadt wird eröffnet - Hunderttausende erwartet» vom 26.09.2018) Foto: Frank Rumpenhorst/dpa | Verwendung weltweit
Von einem Dachfenster ergibt sich ein Blick auf den Hühnermarkt im Herzen der Frankfurter Altstadt. © Frank Rumpenhorst/dpa
Touristen schauten sich am liebsten das schöne Alte von früher an, sagte der Luzerner Historiker Valentin Groebner im Deutschlandfunk Kultur. Das sei neben dem Strand und den Bergen die wichtigste Vorliebe. "Es muss schön sein und es muss aber vor allem alt sein", sagte der Buchautor, der sich in seinem Buch "Retroland" ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt hat.
Als Historiker habe er da gemischte Gefühle, denn Geschichte sei eigentlich die "Wissenschaft vom Kaputtgehen." Es sei eine unglaubliche Geste von Macht und Wohlstand, das, was zerstört gewesen ist, wieder hinzustellen. "Es ist ein bisschen wie ein Zaubertrick – das Zerstörte ist wieder da." Die Uhr werde zurückgedreht und das vermeintliche Herz von Frankfurt sei zurücktransplantiert worden.

"Die Altstadt wird nicht sehr lange alt bleiben"

Diese Form der Geschichtsinszenierung sei allerdings keineswegs neu, sagte Groebner. "Die beliebtesten deutschen Burgen und fast alle deutschen Dome aus dem Mittelalter sind in Wirklichkeit aus dem 19. Jahrhundert." Wenn man etwas neu baue, geschehe dies in der verbesserten, gereinigten Version.
"Alles Unpassende ist verschwunden und das reine Gefühl ist wieder da", sagte Groebner. Die neue Altstadt in Frankfurt sei eine Art steingewordene Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts, bestätigte der Historiker. "Die Altstadt ist jetzt alt, wird aber nicht mehr sehr lange alt bleiben."
All diese Rekonstruktionen trügen unübersehbare Spuren ihrer eigenen Entstehungszeit. Das Nikolaiviertel in Berlin sehe beispielsweise heute auch nicht nach den schönen Häusern aus dem 18. Jahrhundert aus, sondern sehr stark nach DDR. Ähnlich werde es auch der neuen Frankfurter Altstadt ergehen.

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute beginnen sie, die Eröffnungsfeierlichkeiten der neuen Altstadt von Frankfurt am Main. "Frankfurt bekommt sein Herz zurück", jubelt deshalb auch auf der Seite frankfurt-tourismus.de, und da steht auch: "Mit dem Dom Römerquartier, einem europaweit einzigartigen Bauprojekt, bekommt Frankfurt nun einen Teil seiner Geschichte zurück."
Herz, Geschichte – Anlass für uns, darüber zu reden, warum wir so eine Sehnsucht haben nach dem vermeintlich Authentischen und deshalb fast inflationär historische Bauten wiederherstellen. Valentin Groebner ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern, und er hat sich damit befasst als Autor des Buches "Retroland: Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen". Herr Groebner, schönen guten Morgen!
Valentin Groebner: Schönen guten Morgen!
Billerbeck: Warum ist es für den Tourismus, aber auch für die Leute, die in so einer Stadt wohnen, so wichtig, geschichtsträchtige Orte wieder mit pittoresken Fachwerkhäusern zu bebauen?
Groebner: Für den Tourismus ist das klar, denn am allerliebsten schauen sich Touristen, außer natürlich den Strand oder die schönen Berge, das schöne Alte von früher an. Es muss schön sein, und es muss aber vor allem alt sein, die unberührten Dörfer in der Toskana oder die pittoresken mittelalterlichen Altstädte überall in Europa und auch anderswo.
Billerbeck: Ist im "Retroland" – so heißt ja auch Ihr Buch – nicht aber auch eine rückwärtsgewandte Geschichtspolitik am Werk, die sich dann in diesen Bauten manifestiert?
Groebner: Na ja, das, was man am liebsten anschaut, das Alte, ist ja nicht kaputt, sondern es ist immer noch da. Als Historiker hat man da immer ein gemischtes Gefühl, weil Geschichte ist ja sozusagen die Wissenschaft vom Kaputtgehen, und das ist eine vertraute Erzählung: Früher war es perfekt, früher war es harmonisch, überschaubar, vertraut, und dann kam die Moderne, dann kam die Zerstörung in der Industrialisierung und der Kriege, und seitdem ist es nicht mehr da. Das neu hinzustellen, ist natürlich auch eine unglaubliche Geste von Macht und von Wohlstand, denn es ist sehr teuer, Altes wieder hinzustellen. Es ist ein bisschen wie ein Zaubertrick: Das Zerstörte ist wieder da, die Uhr ist zurückgedreht, das vermeintlich verlorene Herz von Frankfurt, Herz als Gefühl, ist wunderbarerweise zurücktransplantiert worden. Das ist ja die Erzählung.
Billerbeck: Ja. Aber diese Art von Geschichtsinszenierung, ist die eigentlich tatsächlich ein modernes Phänomen oder gab es sowas wie eine Geschichte der Geschichtsinszenierung?
Groebner: Das 19. Jahrhundert hat in sehr, sehr großem Maß Mittelalterliches zerstört, zum Verschwinden gebracht und dann auch sehr schnell wieder hergestellt. Die beliebtesten deutschen Burgen und fast alle deutschen Dome aus dem Mittelalter sind in Wirklichkeit aus dem 19. Jahrhundert, denn wenn man Dinge neu baut, baut man sie natürlich in der verbesserten, gereinigten Version, alles Unpassende ist verschwunden, und das reine Gefühl ist wieder da. Das ist ein Stück weit der Gestus der Wiederherstellung. Also man baut im Zweifelsfall eine Vergangenheit, die es so früher nie gegeben hat.
Billerbeck: Es gibt ja, unabhängig von Frankfurt am Main und Sie haben eben ja auch schon Beispiele genannt, viele Beispiele für solche neuen Altbauten. Die Innenstadt von Münster fällt mir da ein, natürlich das Berliner Stadtschloss, die 1993 komplett abgebrannt und komplett rekonstruierte Holzbrücke in Luzern, allesamt Besuchermagneten, aber spielt für die Besucher dieser Orte denn keine Rolle, dass das alles nicht authentisch ist?
Groebner: Vorsicht mit dem Begriff "authentisch". Das ist ein alter juristischer Begriff, heißt: mit eigener Hand, und bezeichnet seit vielen hundert Jahren eigentlich die Ergebnisse von Reproduktionstechniken. Etwas ist authentisch, weil es wieder hergestellt werden kann. Ich glaube, dass die Aufladung all dieser Städte, die Sie genannt haben, einen ganz spezifischen Mechanismus beschreibt, nämlich: Damit etwas zum symbolischen Wahrzeichen kann, muss es erst einmal kaputtgehen. Also nehmen Sie zum Beispiel die Kathedrale Notre Dame de Paris, die am Beginn des 19. Jahrhunderts sehr, sehr kaputt war durch die Französische Revolution, und die wurde dann in den 1840er- und 1850er-Jahren wiederaufgebaut. Sehr viel, von dem, was Sie dort heute sehen, sieht zwar aus wie Mittelalter, ist aber aus dem 19. Jahrhundert, und dasselbe gilt für die Warschauer Altstadt, das Warschauer und das Berliner Stadtschloss. Das ist ein relativ häufiger Vorgang, der das Kaputtgehen, das Kaputtgegangensein eigentlich, magisch zum Verschwinden bringt, eine Art historischer Zaubertrick. Sowas schauen wir uns gerne an.
Billerbeck: Sie haben ja schon auf das Wort Authentizität verwiesen, was das eigentlich bedeutet. Ich will eigentlich zwei Begriffe ins Spiel bringen, die kann man in Ihrem Buch auch finden. Ihre Grundthese in diesem Buch "Retroland" ist ja genau die Unterscheidung zwischen Geschichte und Vergangenheit. Geschichte wird gemacht, erzählt, wird erlebbar; und Vergangenheit ist unerreichbar, die ist vorbei, nicht mehr verfügbar, auf immer verstummt. Ist es nicht wichtig, ob Geschichte wahr ist, ob es wirklich so gewesen ist wie das, was wir dann da gebaut sehen?
Groebner: Ja, aber das, was wirklich so gewesen ist, ist sehr oft nicht mehr da. Das heißt, die Frankfurter Altstadt ist uns ja in einzelnen Bauresten erhalten. Das Allermeiste von dem, das das ausgemacht hat, nämlich nichts als die Menschen, die vor 300 oder 400 oder 500 Jahren dort gelebt haben, die sind für immer weg. Die haben einzelne, verstreute, papierene Spuren hinterlassen. In schwer lesbarer Sprache und schwer lesbarer Schrift liegen die im Archiv. Geschichte ist eben unsere Leistung seit dem 19. Jahrhundert, daraus wieder Erzählungen zu machen, mit denen man sich etwas vorstellen kann, während die Vergangenheit selbst das unbetretbare Land ist. Da kommen wir nie mehr wieder hin. Deswegen ist das auch ein bisschen kränkend, deswegen ist Geschichte so eine große – ich bin jetzt ein bisschen spöttisch – auch eine Unterhaltungsindustrie seit dem Bestseller von Gustav Freytag, "Bilder aus der deutschen Vergangenheit" von 1859. Das ist nicht so neu, sich nach der Vergangenheit zu sehnen, wie wir uns heute vorkommen.
Billerbeck: Das heißt, Geschichte ist eigentlich immer Inszenierung?
Groebner: Ja, aber da würde ich die Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen und meine eigene verteidigen: Immer zuverlässigere und immer neue Neuzusammensetzung. Mit der Vergangenheit selbst, sie liefert uns das Material, aber da kommen wir nicht mehr hin.
Billerbeck: Und der Neubau der Frankfurter Altstadt, da sind ja auch Dinge zusammengesetzt worden, Altes und Neues. Ist das auch so eine Art Stein gewordene Geschichtsschreibung?
Groebner: Ja, aber des 21. Jahrhunderts. Die Altstadt ist jetzt alt, sie wird aber nicht mehr sehr lang alt bleiben, denn das ist die Geschichte von allen Rekonstruktionen, die tragen unübersehbare Spuren ihrer eigenen Entstehungszeit. Das heißt, die Altstadtgassen, die Benito Mussolini in Bologna in den 30er-Jahren hat bauen lassen, sehen heute nicht nach 14. Jahrhundert aus, sondern nach 30er-Jahre, und das Nikolaiviertel in Berlin sieht für uns heute auch nicht nach den schönen Häusern aus dem 18. Jahrhundert aus, sondern sehr stark nach DDR. Das wird der Frankfurter neuen Altstadt wahrscheinlich auch passieren.
Billerbeck: Johannes Rau hat mal – 2002 war das, glaube ich – auf dem Historikertag gesagt, es gibt keine Identität ohne Geschichte, und es gibt keine Geschichte ohne Identität. Wie hängen Sie denn individuelles Erlebnis und so etwas wie eine kollektive Suche nach Identität zusammen?
Groebner: Ich verwende den Begriff nicht. Identität ist ein sehr merkwürdiges Wort, das in der Form, in der es Johannes Rau und viele andere im 21. Jahrhundert verwenden, der aus der Sozialpsychologie der 1950er-Jahre kommt und eine Art von Wunschbegriff ist, der im Wesentlichen eigentlich die Intention desjenigen abbildet, der das Wort gebraucht. Das ist so eine Supervokabel, das die genaue Nachfolge von Wörtern aus dem 19. Jahrhundert angetreten hat, die wir aus guten Gründen nicht mehr verwenden, zum Beispiel "Wesen" oder "Volksgeist". Identität ist der Volksgeist des 21. Jahrhunderts, und dementsprechend schwammig ist der Begriff.
Billerbeck: Der Historiker Valentin Groebner von der Universität Luzern hier im Deutschlandfunk-Kultur-Interview am heutigen Tag, wenn die Frankfurter Altstadt, die neue Frankfurter Altstadt eröffnet wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literaturhinweis:

Valentin Groebner: "Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen"
S. Fischer Verlag, 2018
224 Seiten, 20 Euro.

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