Neuauflagen von US-Autoren

Wiederentdeckte Juwelen

Der US-Autor Theodore Dreiser (1871 bis 1945).
Der US-Autor Theodore Dreiser (1871 bis 1945). © imago stock&people
Manuela Reichart im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.03.2018
John Williams, Paula Fox, Theodore Dreiser - lange war es still um diese Namen. Doch seit ein paar Jahren feiern die US-Autoren ihre Wiederentdeckung als kluge Chronisten der amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Zu Recht, sagt Literaturjournalistin Manuela Reichart.
Seit ein paar Jahren sorgen Neuentdeckungen und Neuauflagen von US-amerikanischen Autoren wie Paula Fox, John Williams oder Flannery O'Connor für gute Verkaufszahlen in den Buchläden. Ein Trend? Es steckt mehr dahinter, meint Literaturjournalistin Manuela Reichart, denn alle dieser Autoren seien durchweg lesenswert, teils literarische Juwelen, die es allemal wert sind, wieder gelesen zu werden.
Die jung verstorbene Flannery O'Connor etwa zeige in ihren Erzählungen und zwei Romanen "ein Amerika, das wir gar nicht kennen". Die Texte führten direkt ins Herz Amerikas und porträtierten Menschen, die für den heutigen Leser nicht sehr weit von der Wählerschaft Donald Trumps entfernt scheinen. Wer also wissen wolle, wie Trump-Wähler tickten, könne viel dazu bei O'Connor, die bereits 1964 starb, nachlesen.
Ebenso begeistert habe sie die Neu-Lektüre von Theodore Dreisers "Sister Carrie": Das Buch, immerhin schon um 1900 herum erschienen, beschreibe die Lebensgeschichte einer selbstbewussten, modernen Frau.

Amerikanische Klassiker - neu aufgelegt (eine Auswahl):

Dorothy Baker: "Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft", Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum, dtv München, 2017, 272 Seiten, 20 Euro

James Baldwin: "Von dieser Welt", Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow, dtv, München, 2018, 318 Seiten, 22 Euro

Lucia Berlin: "Was ich sonst noch verpasst habe", Storys, mit einem Vorwort der Übersetzerin Antje Ravic Strubel, Arche Verlag, Zürich 2016, 384 Seiten, 22,99 Euro

Theodore Dreiser: "Sister Carrie", Roman, aus dem Amerikanischen übersetzt von Susann Urban und mit einem Nachwort von Ilija Trojanow, Verlag Die andere Bibliothek, 2017, 608 Seiten, 42 Euro

Flannery O'Connor: 
"Keiner Menschenseele kann man noch trauen", Erzählungen, Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Leube und Dietrich Leube, Arche Verlag, Hamburg, 2018, 347 Seiten, 22 Euro

William Saroyan: "Wo ich herkomme, sind die Leute freundlich", Erzählungen, aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl, dtv, München 2017 203 Seiten, 20 Euro

John Williams: "Stoner", Roman, Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben, dtv Taschenbuch, München, 2014, 352 S., 10,90 Euro


Das Interview in voller Länge:

Joachim Scholl: Wir wollen jetzt einen, diesen interessanten Trend auf dem deutschen Buchmarkt analysieren, die Renaissance US-amerikanischer Klassiker nämlich, die neu aufgelegt, zum Teil neu übersetzt, ein immer größeres Publikum bei uns finden. Und die Kritikerin Reichart Reichert, die hat für unsere Lesart diese Titel mal sortiert. Sie ist im Studio. Guten Morgen!
Manuela Reichart: Guten Morgen!
Scholl: Was sind das für Autoren, was für Bücher, Frau Reichart?
Reichart: Amerikanische Klassiker der Moderne, von Theodore Dreiser bis Flannery O'Connor, James Baldwin, Dorothy Baker, finde ich, ist eine ganz interessante Autorin, die wiederentdeckt worden ist. Das ist ein wunderbarer Roman, zum Beispiel "Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft", ein Jazzroman, ist mal verfilmt worden, völlig vergessen und jetzt wieder da. Also amerikanische moderne Entdeckungen, Lucia Berlin, könnte man auch sagen, eine Autorin, die hier kein Mensch kannte, und die dann wirklich hier sehr viel gelesen, verkauft wurde, angenommen worden ist.
Scholl: James Baldwin haben Sie genannt. Der ist zurzeit ganz aktuell, in aller Kritiker Munde. Es gibt eine neue Übersetzung seines ersten Romans "Vor dieser Welt". Wir haben ihn hier in der Lesart schon ausführlich besprochen und vorgestellt. War er denn weg vom deutschen Buchmarkt?
Reichart: Das ist wirklich interessant, weil James Baldwin ist natürlich einer der großen amerikanischen Autoren und tatsächlich, er ist lange bei Rowohlt verlegt worden, waren seine Bücher nicht mehr zu haben, also nur noch antiquarisch, was man überhaupt gar nicht versteht. Und jetzt hat DTV eben seinen Debutroman "Von dieser Welt" neu aufgelegt und, sie haben es gesagt, ist sofort besprochen worden, weil es eine wirklich auch eine wirklich spannende Geschichte ist, über so eine, man kann nicht sagen Coming-of-age-Geschichte, aber eines jungen Mannes, der sich in der schwarzen religiösen Welt zurechtfinden muss.
Scholl: Der Deutsche Taschenbuch Verlag ist überhaupt der Verlag, der, wenn es um neue Übersetzungen, Wiederentdeckungen geht, im Augenblick eine ganz große Rolle spielt.
Reichart: Ja, ich würde sagen die überwiegende Zahl von Entdeckungen, jetzt nicht nur James Baldwin, sondern zum Beispiel auch Dorothy Baker habe ich erwähnt – ist auch DTV –, die sind da wirklich sehr, sehr engagiert und machen ganz viel. Und denen haben wir es zu verdanken, auch William Saroyan zum Beispiel – ein Autor. Ich habe mich mit jemandem unterhalten, der sich noch erinnerte, dass der in den 60er-Jahren bekannt war. Kein Mensch kannte den mehr. Jetzt hat DTV eben die Geschichten von ihm neu aufgelegt, hat auch einen schönen Titel "Wo ich herkomme sind die Leute freundlich", kann man in diesen Zeiten gut gebrauchen. Also DTV ist da in der Tat ganz vorne, und einer der wichtigen Autoren war ja auch bei DTV, nämlich John Williams. Wenn man so will, war das ja so ein Anfang dieser Renaissance.
Scholl: Stichwort John Williams, es gab vor einigen Jahren einige Initialzündungen, könnte man sagen, als plötzlich Autoren wieder da waren, plötzlich entdeckt wurden, die völlig in der Versenkung verschwunden waren. Und John Williams ist so einer, mit seinem Roman "Stoner" – war bei uns ein riesen Erfolg. Oder dann auch Paula Fox, die letztes Jahr verstorben ist. Mit einem Mal wurden ihre Romane überall gefeiert. Was ist das für eine Literatur?
Reichart: Das ist wirklich interessant. Also "Stoner" von Williams ist wirklich ein großer Roman, ein unglaublich düsterer Roman, in dem es meiner Ansicht nach nur einen heiteren Moment überhaupt gibt. Das der so erfolgreich gewesen ist hat mich auch sehr gewundert, weil das eine psychologisch sehr genaue, wie gesagt, sehr düstere Beschreibung eines Mannes ist, der im Grunde ein total gescheiterter ist, eine furchtbare Ehegeschichte, eine schief gehende Liebesgeschichte. Und DTV hat ja dann auch alle anderen Bücher von John Williams gemacht, der insofern interessant ist, als er im Grunde mit jedem neuen Roman sich einem anderen Genre zugewandt hat. Also er hat ein Buch über Augustus geschrieben, er hat letztlich einen Western geschrieben. Und bei Paula Fox ist es auch so, dass das eher dunkle Geschichten waren, wobei bei ihr das ein großes Werk – ist ja auch eine Kinderbuchautorin – ist, die, glaube ich, nie so ganz weg war. Bei dem Williams war es wirklich so, den kannte hier niemand.
Scholl: Von den Autoren, die Sie vorhin genannt haben, Frau Reichart, schauen wir uns doch jetzt mal ein, zwei Bücher genauer an, um diesem Trend vielleicht besser auf die Spur zu kommen. Flannery O'Connor haben Sie ausgewählt, "Keiner Menschenseele kann man noch trauen", auch ein schöner Buchtitel – ich glaube, das sind Geschichten, Storys.
Reichart: Das sind zehn neu übersetzte Geschichten, ja!
Scholl: Was wird denn hier erzählt?
Reichart: Das ist für mich überhaupt das Buch, das ich in den letzten Monaten, Jahren vielleicht gelesen habe. Ich habe Flannery O'Connor vor vielen, vielen Jahren schon mal gelesen, hatte das so ein bisschen vergessen, das ist ja auch eine Folge – also man kann sie kennen lernen, oder man kann sie auch wieder lesen. Und Flannery O'Connor ist glaube ich, um das Stichwort noch mal aufzugreifen, die düsterste Autorin überhaupt, also 1908, und die Flannery O'Connor, die 1925 geboren wurde und 1964, also mit 39 Jahren, gestorben ist, die schreibt Geschichten, neulich hat mir jemand gesagt, er könne immer nur eine Lesen, weil danach müsse man sich erstmal einen ganzen Tag erholen. Das sind Geschichten, wo man eine Menge zum Beispiel erfährt über das Amerika, das wir gar nicht kennen, weil es so fern ist von dem, was wir so meinen über New York, San Francisco immer schon erfahren zu haben. Also es ist eine Südstaaten-Autoren, und sie schreibt über die Verhältnisse, die die Menschen gottesfürchtig, und die Menschen, die, wenn man das liest, sehr – nicht vertraut sind, sondern wo man denkt, wenn man was über das Trump-Amerika erfahren will, dann ist das nicht die schlechteste Art, sich dem anzunähern. Denn da sind Leute, die sie beschreibt, wo man sich sofort vorstellen kann, das sind Trumps Wähler, auch wenn dazwischen eine große Zeitspanne liegt. Also das ist ein literarisches Erweckungserlebnis, würde ich mal sagen, weil sie ist eine katholische Autorin, die sich den existenziellen Themen zugewandt hat.
Scholl: Werfen wir auch einen Blick auf Theodore Dreiser, "Sister Carry". Ich meine mich zu erinnern, dass ich den, glaube ich, vor, ich weiß nicht, vor 30 Jahren gelesen habe in meinem Anglistikstudium. Ich meine, das ist noch älter.
Reichart: 1900.
Scholl: 1900. Ein richtiger Klassiker.
Reichart: Völlig verrückt. Ist nie vollständig übersetzt gewesen, also jetzt die erste vollständige Übersetzung in der "Anderen Bibliothek" erschienen. Theodore Dreiser war ja ein eher linker Autor, ein an sozialen Verhältnissen interessierter Autor. Ich würde sagen, nicht ein wirklich großer, also im Vergleich zu Flannery O'Connor ist das kein Stilist. Aber dieser Roman, der wirklich so was ist wie Lesestoff, könnte man sagen, weil der hat 600 Seiten, dieser Roman ist deswegen so verrückt, weil im Zentrum eine junge Frau steht, 1900 geschrieben, die vollständig mit dem bricht, was so eine Vorstellung von Weiblichkeit gewesen ist. Und als der Roman erschien, ging es natürlich um die sexuellen Geschichten, die da eine Rolle spielen. Sie heiratet die Männer, mit denen sie schläft, nicht, und sie macht Karriere, und zwar selbstständig Karriere, unabhängig von den Männern. Also eine Frauenfigur, die, wenn man sie heute liest, man sich so ein bisschen die Augen reibt und denkt, das ist wirklich unglaublich modern. Und Dreiser war auch immer ein Autor, der sich um Großstadtleben gekümmert hat und darauf fokussiert hat in seinen Romanen. Auch das ist spannend zu lesen.
Scholl: Und die Verlage nun, die hier also anscheinend doch jetzt verstärkt darauf einsteigen – wie würden Sie denn, Frau Reichart, insgesamt die Auswahl einschätzen? Nach welchen Kriterien legt man diese alten Werke wieder auf?
Reichart: Das hat natürlich immer was mit persönlichen Vorlieben zu tun. Bei DTV gibt es einfach einen Lektor, der sich sehr gut auskennt und der sicher auch nach persönlichen Vorlieben und den Vorstellungen, was erfolgreich, was Lesestoff sein könnte. Aber worauf die sich alle natürlich auch berufen, ist eine Liste, nämlich New York Review of Book Classics. Das ist sozusagen die Fundgrube für all die Lektoren und die Verlage, nämlich zu gucken, was steht eigentlich auf der Liste. Dass es das bei uns nicht gibt, ist interessant, weil da könnte man natürlich auch sagen, könnte man leicht machen, und wäre vielleicht auch für deutsche Wiederentdeckungen und Wiedererweckungen dann sehr hilfreich.
Scholl: Das heißt sozusagen, diese Liste, die da in dieser hoch renommierten Literaturzeitschrift veröffentlicht wird, die legt dann sozusagen auch schon den Trend, der in Amerika dann auch dann da ist?
Reichart: Das ist bei Williams so gewesen, ja, das ist Flannery O'Connor jetzt auch, auch Dorothy Baker mit diesem Jazz-Roman, von dem ich gesprochen habe. Das sind alles Erfolge auch schon in Amerika gewesen.
Scholl: Nun war die zeitgenössische amerikanische Literatur immer populär bei uns und ein Erfolgsgarant auch. Was macht denn nun aber jetzt diese betagten Bücher anscheinend so attraktiv auch für ein deutsches Lesepublikum?
Reichart: Ich glaube, es ist natürlich immer die Suche nach dem Lesestoff, und da ist amerikanische Literatur natürlich immer ein Garant, die Literatur der Moderne. Ich glaube ja, dass, ich habe es schon gesagt, bei Flannery O'Connor, dass je weniger wir sozusagen die amerikanische Trump-Wirklichkeit verstehen, desto mehr verfolgen wir vielleicht literarische Spuren, um auch zu sehen, erstens, worauf es basiert, wo man Erklärungen finden kann. Aber natürlich vor allen Dingen auch, was unsere Liebe zu Amerika nicht zuletzt grundiert, und dass man die in der Literatur finden kann. Das wäre so das eine, und das andere ist, glaube ich, auch, dass die Leserinnen und Leser heute – also wir sind ja in einer schwierigen Situation, es gab diese Zahlen jetzt zur Leipziger Buchmesse, 6,5 Millionen weniger verkaufte Bücher in den letzten Jahren – vielleicht mehr auf literarische Traditionen auch setzen, dass man sagt, da gibt es Bücher, die schon, wenn man so will, eine Garantie sind dafür, dass es sich wirklich um Literatur handelt, die es lohnt, gelesen zu werden, und nicht nur die Bestseller.
Scholl: Das heißt sozusagen, das Publikum wird ein wenig wählerisch und legt so auf Altbewährtes dann einfach mehr Wert?
Reichart: Das klingt jetzt so ein bisschen abwertend mit dem Altbewährten vielleicht.
Scholl: Das stimmt natürlich.
Reichart: Ich finde es eher eigentlich eine erfreuliche und hoffnungsfroh stimmende Tendenz, dass es nicht – der Buchmarkt ist ja wahnsinnig schnell, also jetzt kommen schon wieder die Verlagsmitteilungen für den Herbst. Wir haben jetzt gerade mal, noch nicht, wenn wir rausgucken, ist noch nicht mal Frühling, aber jetzt sollen wir schon wieder die Bücher angucken, die dann zu Weihnachten gelesen werden. Also dass man da irgendwie gegensteuert und sagt, Moment, bei aller Schnelllebigkeit und bei allen Bestsellern und fröhlichem hin und her, hier gibt es Bücher, die wirklich die Zeit überlebt und überdauert haben, und die es lohnt, wieder zu lesen und wiederzuentdecken.
Scholl: Die ungebrochene Popularität von literarischen Klassikern aus den USA. Manuela Reichart hat uns den Zusammenhang entfaltet. Vielen Dank Ihnen dafür. Eine ausführliche Liste aller genannten Titel schauen Sie sich in Ruhe an unter www.deutschlandfunkkultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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