Neuauflage

Kafkas befremdliches Insekt

Eine amerikanische Küchenschabe krabbelt auf einem Ast.
Wie genau Gregor Samsa nach seiner Verwandlung ausgesehen hat, lässt Kafka offen. Vielleicht wie diese amerikanische Küchenschabe? © dpa picture alliance/ Stephanie Pilick
Von Helmut Böttiger · 26.05.2014
Kafka lässt den Leser mit der Geschichte von Gregor Samsas Verwandlung in ein Insekt verwirrt, befremdet zurück. Die neue Ausgabe im Beck-Verlag ist eine Verbeugung vor einem der wichtigsten Werke Kafkas.
"Die Verwandlung" ist wahrscheinlich der Text, in der Kafkas Sprache und Bildwelt am konzentriertesten erscheint. Nicht von ungefähr sagt der große Kafka-Kenner Reiner Stach, dass man am besten mit der "Verwandlung" beginnen solle, wenn man Kafkas Werk kennenlernen will. Es ist zuerst im Herbst 1915 in Kurt Wolffs berühmter Reihe "Der jüngste Tag" erschienen. Der enigmatische erste Satz ist mittlerweile fast schon sprichwörtlich geworden und enthält bereits die gesamte Kafkasche Ästhetik: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."
Das Insekt entzieht sich
Hier ist jedes Wort wichtig; die beiläufig genannten "unruhigen Träume" etwa verweisen auf etwas Abgründiges, auf ein Lebensgefühl zu Beginn der Moderne, als die bürgerliche Gesellschaft sich ihrer selbst nicht mehr sicher war. "Entfremdung", dieses später oft totgerittene Wort, trifft die Atmosphäre in Kafkas Erzählwelt am deutlichsten. Das "ungeheuere Ungeziefer" ist etwas, was sich nicht bildhaft darstellen lässt. Kafka bestand seinem Verlag gegenüber darauf, auf dem Umschlag des Buches keinesfalls "das Insekt selbst" abzubilden, denn dieses "kann nicht gezeichnet werden". Das "Ungeziefer" ist aber auch nicht abstrakt, es ist kein Symbol: Es ist ein nichtrealistisches Bild, das mit Worten nicht vollständig erklärt werden kann. Es entzieht sich, und das ist das genuin Literarische daran, dem landläufigen und theoretisch noch so versierten Diskurs.
Was Gregor Samsa erlebt, ist "kein Traum", wie es einmal heißt. Es ist die normalerweise nicht sichtbare Kehrseite der Realität. Im Laufe der Erzählung wird die Familienkonstellation, in der sich Gregor Samsa bewegt, immer deutlicher: Er hat in den letzten Jahren nach dem Bankrott des Vaters die Familie ernährt, jetzt aber werden Mutter, Vater und Schwester wieder berufstätig und empfinden Gregor zusehends als überflüssig. Der Vater treibt ihn zweimal in sein Zimmer zurück, und als er sich ein weiteres Mal herauswagt, spielt die Schwester gerade "drei Zimmerherren", an die die Familie untervermietet hat, auf der Geige vor.
Die Aporien der bürgerlichen Familie schonungslos aufgedeckt
Die Herren beklagen darauf "widerliche Verhältnisse", die Schwester aber, der Gregor in der "normalen" Familienzeit vorher noch gegen den Willen der Eltern ein Musikstudium finanzieren wollte, bezeichnet ihn jetzt als "Untier", das man "loswerden" müsse. Gregor stirbt in der folgenden Nacht: "An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück."
Kafkas Textur ausschließlich auf "Masochismus" zurückzuführen, wie es zeitweilig geschehen ist, greift bei weitem zu kurz. Aber die Aporien der bürgerlichen Familie werden hier schonungslos aufgedeckt, und dass Gregor in seiner Sehnsucht nach Nähe das menschlichste Familienmitglied der Samsas ist, wird am Ende der Erzählung äußerst deutlich. Der Verlag C.H. Beck hat diesen Schlüsseltext der deutschsprachigen Moderne jetzt in seiner bibliophilen Reihe "textura" neu herausgebracht, mit einem Nachwort von Kurt Drawert, der auch nicht anders kann, als sich vor der Bedeutung dieser "Verwandlung" zu verbeugen.

Franz Kafka: "Die Verwandlung"
Verlag C.H.Beck, München 2014 (Reihe textura)
92 Seiten, 12,95 Euro

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