Im emotionalen Ausnahmezustand

19.09.2013
Krankheit und Frauen, davon erzählen die Briefe Franz Kafkas zwischen 1918 und 1920. In deren Mittelpunkt steht der Briefwechsel mit der in Wien lebenden, tschechischen Journalistin und Übersetzerin Milena Pollak. Scharfsinnig erläutert von Herausgeber Hans-Gerd Koch.
Die Briefe Franz Kafkas aus den Jahren 1918 bis 1920 – 1919 erscheint "In der Strafkolonie", es entstehen der "Brief an den Vater" und die knappen Denkbilder der Oktavhefte – erzählen von der Krankheit und den Frauen. Der eben erst von Felice Bauer Entlobte muss immer wieder in den Erholungsurlaub oder in Sanatorien fahren, um die ausgebrochene Tuberkulose zumindest in Schach zu halten, und er nimmt das andere Geschlecht aufmerksam wahr.

Im Mittelpunkt steht die sich im Jahr 1920 explosionsartig entwickelnde und alle anderen Briefpartner, selbst die Lieblingsschwester Ottla, in den Hintergrund drängende Korrespondenz mit Milena Pollak. Gut die Hälfte aller Briefe in diesen drei Jahren gehen an die in Wien verheiratete Journalistin und Übersetzerin. Kein metaphysischer, sondern ein leidenschaftlicher Kafka verfasst sie, einer, der offen über seine existenzielle Angst spricht und sich als recht pedantisch erweist, wenn er das Kursbuch studiert, um Milena in der Grenzstadt Gmünd für Stunden zu treffen, ohne Urlaub nehmen zu müssen.

Nur am Rande spielen in die Briefe des Sekretärs der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für Böhmen in Prag die Ereignisse des letzten Kriegsjahrs und der ersten Friedenszeit hinein. Die damit einhergehende Unsicherheit, der wirtschaftliche Niedergang, Wohnungsnot, der Hunger, die Flüchtlinge. Weil Ottla einen christlichen Tschechen heiratet, treten der Nationalismus der kleinen aus dem Habsburger Reich entstehenden Nation sowie der Antisemitismus etwas deutlicher hervor. Ansonsten schreibt Kafka meist aus dem ländlichen oder Sanatoriumsabseits an Ottla, die Eltern, die Freunde Max Brod, Oskar Baum, Felix Weltsch und andere sowie im emotionalen Ausnahmezustand an Milena Pollak.

Scharfsinnige Kärrnerarbeit, untentbehrlich für Forscher
252 Briefe verzeichnet der Band der im S. Fischer Verlag erscheinenden Kritischen Ausgabe in chronologischer Reihenfolge, darunter zehn Erstdrucke. Zwei davon, adressiert an die zweite Verlobte Julie Wohryzek, tauchten um die Jahrtausendwende unter Philatelisten auf, die sich nicht für Kafka, sondern für die Marken des untergegangenen Habsburgerreichs auf den Rohrpostbriefen interessierten. Herausgeber Hans-Gerd Koch verzeichnet auch verschollene Briefe, die in anderen Zeugnissen erwähnt werden. Äußerst schwierig war die Datierung: Die Briefe an Milena tragen kein Datum, die Kuverts sind nicht überliefert. Immerhin hat Kafka sie aus Angst vor Verlust manchmal nummeriert.

Koch erschließt knapp 400 Seiten Briefe mit nicht weniger als 600 Seiten Erläuterungen. Die Kommentare klären Hintergründe und Anspielungen, sie nennen Namen und Sachverhalte. Es folgen Briefe und Widmungen an Kafka, verschiedene Register, schließlich der Kritische Apparat, der den Aufbewahrungsort des jeweiligen Briefes, sein Aussehen, die Gründe für die schwierige Datierung und die editorischen Eingriffe in den Text verzeichnet. Es sind 1050 Seiten mitunter scharfsinniger Kärrnerarbeit, unentbehrlich für Forscher. Andere Leser werden sich wohl mit der parallel erschienenen, nur ein Drittel so teuren Kommentierten Ausgabe begnügen, die auf den Kritischen Apparat verzichtet, nicht aber auf die ungemein hilfreichen Erläuterungen von Hans-Gerd Koch. Dank ihnen tritt vor dem historischen Hintergrund ein Franz Kafka hervor, der dem Leben und der Krankheit, der Freundschaft und der Liebe kunstvolle Texte abgewinnt.

Besprochen von Jörg Plath

Franz Kafka: Briefe 1918-1920. Band 4. Kritische Ausgabe
Herausgegeben von Hans-Gerd Koch
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
1048 Seiten, 152 Euro, Kommentierte Ausgabe (ohne den Kritischen Apparat): 50 Euro
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