Neuaufbau

Paternalismus behindert die Ukraine

Menschen schwenken Ukraine-Fahnen in Kiew
Die Kämpfe des Umbruchs in der Ukraine waren entbehrungsreich. Ebenso hart werden die Kämpfe für die Zukunft und die Einheit des Landes. © picture alliance/dpa/Tatyana Zenkovich
Von Aleksandr Nowikow · 27.11.2014
Welche Spielräume hat das neugewählte Parlament in Kiew, den Konflikt mit den abtrünnigen Regionen im Osten des Landes zu lösen, fragt der Jurist Aleksandr Nowikow. Eine Föderalstruktur wie in Deutschland jedenfalls komme für die Ukraine nicht in Frage.
Schon der erste Eindruck zeigt dem Besucher der Ukraine schroffe soziale Gegensätze: hier die reiche Metropole Kiew, dort die vielen armen Dörfer.
Das Machtsystem ist ein durch und durch zentralistisches. Finanzielle Mittel, die in den Regionen erarbeitet werden, fließen fast in vollem Umfang nach Kiew. Ausschließlich dort wird entschieden, wo wieviel wofür verwendet wird und in welche Region Geld zurückkehrt.
Zwei Revolutionen hat das Land in kurzer Zeit erlebt und noch immer steht aus, das Verhältnis von Regierung und Parlament zu den Regionen und Kommunen grundlegend zu verändern. Auf dem "Maidan" haben die damaligen Oppositionsführer den Ukrainern eine Reform versprochen.
Mittlerweile zeigt die Politik in Kiew, dass sie bereit ist, Macht abzugeben und die Verfassung zu ändern, vor allem bereit ist, den Gemeinden Geld, das von ihnen erwirtschaftet wurde, zu überlassen und es selbstbestimmt zu verwenden. Nun wäre es dringend erforderlich, ihnen auch Aufgaben und Kompetenzen zu übertragen, die besser dezentral, also nicht zwingend zentralstaatlich angebunden sein sollten.
Aber ist ein solches Projekt der Dezentralisierung in der Ukraine überhaupt realisierbar? Die Antwort hängt nicht nur vom politischen Willen in der Hauptstadt, sondern auch von den Einstellungen der Bevölkerung ab.
Die meisten Ukrainer mögen ihre Zentralmacht nicht. Allerdings gibt es einen Unterschied: Im Osten des Landes hoffen sie mehrheitlich, auch wenn sie auf die Mächtigen schimpfen, der Staat werde Probleme lösen. Im Westen und in der Mitte der Ukraine bauen sie dagegen auf sich selbst, auf regionale Kräfte, also auf eine Zivilgesellschaft.
Dazu ein Beispiel: Als die Nachricht aufkam, Russland habe seine Gaslieferungen eingestellt, wartete die Bevölkerung im Osten zunächst geduldig darauf, dass alle Beteiligten sich einigen würden, obwohl es in ihren Häusern schon kalt war. Die Einwohner der Städte und Dörfer in der zentralen Ukraine haben indes innerhalb von nur anderthalb Monaten ihre Heizungssysteme auf alternative Energiequellen umgestellt.
Das alles hat nichts mit ethnischen Unterschieden zu tun. Transkarpatien im Westen ist - ethnisch gesehen - wesentlich heterogener als der Osten der Ukraine. Vielmehr beruhen die meisten Reformwiderstände auf einem ausgeprägten Paternalismus, darauf also, dass sich breite Bevölkerungsschichten einer Region mit der Mentalität sowjetischer Planwirtschaft identifizieren.
Regierungsbezirke mit ethnischer oder landsmannschaftlicher Bedeutung?
Unter Rechtswissenschaftlern in Charkiw, die beauftragt waren, Vorschläge für den künftigen Staatsaufbau zu machen, setzte sich deshalb die Erkenntnis durch, dass Nutznießer einer Dezentralisierung nicht Regionen sein sollten, sondern Städte und Gemeinden.
Dort können Selbstverwaltung und dadurch Kreativität und Bürgersinn die größte Wirkung entfalten und das ganze Land von der Basis her verändern. Es sind die Bürger, die es in die Hand nehmen müssten, Probleme zu lösen und die Ukraine aus der Krise zu führen.
Für eine föderale Struktur dagegen, also für einen Bundesstaat wie in Deutschland, fehlt den Regionen die administrative, die politische und wirtschaftliche Erfahrung. Sie waren eben nie Ausdruck gelebter regionaler Autonomie, die sich vielleicht sogar im Wettbewerb mit anderen Landesteilen sieht.
Heute Regierungsbezirke mit ethnischer oder landsmannschaftlicher Bedeutung aufzuladen, wäre künstlich und ohne Sinn für historische Entwicklung. Im Gegenteil: sie würde eher alten Untertanengeist fördern, der es dem ungeliebten Staat überlässt, alles zu richten.
Eine Föderalisierung, die am Reißbrett entworfen wird, würde den unitär aufgebauten Staat zersplittern, denn jede Region müsste Parlament, Regierung und Gerichtsystem erhalten – verbunden mit einer bestimmten politischen Selbstständigkeit.
Die Ukraine zu zersplittern, genau das aber strebt Russlands Präsident Wladimir Putin an, um das Krim-Szenario noch einmal auszuspielen und den Anschluss des ukrainischen Donbass zu erreichen. Gerade die Krim war doch als autonome Republik mit eigener Verfassung und eigenem Parlament Bestandteil der unitären Ukraine. Und eben dieses Parlament stimmte – von russischen Schusswaffen bedroht - für den Anschluss an Russland!
Aleksandr Nowikow, ukrainischer Rechtswissenschaftler, Professor an der Nationalen Juristischen Universität "Jaroslaw Mudry" in Charkiw
Aleksandr Nowikow© privat

Aleksandr Nowikow, geboren 1982, studierte Rechtswissenschaften und lehrt das Fach "Staatsaufbau" an der Nationalen Juristischen Universität "Jaroslaw Mudry" in Charkiw.

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