Nesthäkchen lebt weiter
Sie war und ist eine der Lieblingsheldinnen der deutschen Mädchen- und Frauenliteratur: Nesthäkchen. Ihrer Erfinderin, der Schriftstellerin Else Ury, nützte der Erfolg wenig. Sie wurde von den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert. Marianne Brentzel hat der Autorin eine Biografie gewidmet.
Ein kleiner schwarzer Lederkoffer. Beschriftet mit weißer Farbe. Gerade Buchstaben in leicht verschnörkelter Schrift verraten den Besitzer: Else Sara Ury, Berlin, Solingerstraße 10. Es ist das einzige, was Else Ury auf ihre letzte Reise mitnimmt. Alles, was der Erfolgsschriftstellerin von ihrem -einst gut bürgerlichen Leben- noch geblieben ist.
„Die Anweisung vom Reichsicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleindungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen... Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben.“
Der große Erfolg von „Nesthäkchen kommt ins KZ“, vor rund 15 Jahren, brachte für die Historikerin Marianne Brentzel den Stein erst ins Rollen. Immer wieder traf sie während ihrer vielen Lesungen und Vorträge über das Leben der Else Ury auch auf Zeitzeugen. Kleine Details und zufällige Informationen, nebst Erzählungen der Mitdeportierten Else Urys, verdichteten sich schließlich zu einem ganz neuen Bild der beliebtesten Autorin für Mädchen- und Frauenliteratur Deutschlands. Sichtbar wird eine Seite Else Urys, über die man bislang nur wenig wusste: ihre jüdische Herkunft. Der Berlin-Historiker Peter Eichhorn:
„Else Ury wurde in eine Familie geboren, die den jüdischen Glauben in sich trug, ihn auch im Alltag lebte. Und wir haben es hier mit einem Judentum zu tun, das sich aber sehr stark auch Deutsch definiert.“
Else Ury bekannte sich sehr wohl zu ihren jüdischen Wurzeln, in ihren Büchern gab sie darüber jedoch so gut wie nichts preis. Hielt sie ihre Nesthäkchenserie bewusst konfessionell neutral? Marianne Brentzel bejaht:
„Ihre Bücher sollten für alle lesbar sein, ganz gleich welcher Religion oder Herkunft.“
Die Assimilierung war mehr als nur eine Überlebensstrategie, sie war eine Selbstverständlichkeit für Deutsche Juden wie Else Ury. Abgesehen davon gab es Wichtigeres. Else Ury musste schließlich in eine Zeit hineinwachsen, in der es die Rolle der Frau neu zu definieren galt. Peter Eichhorn:
„Else Ury war womöglich die verunsicherte Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die gerne neue Freiheiten der Frau im Berufsleben gedacht und vielleicht auch weiter verwirklicht hätte, aber es dann doch nicht durfte oder nicht konnte.“
Von der eigenen Erziehung als höhere Berliner Tochter während der Kaiserzeit geprägt, lässt Ury ihre kleine Heldin Annemarie artig mit Puppen spielen, fleißig musizieren anstatt zu toben, und Angemessenes auf dem Mädchengymnasium erlernen. Nesthäkchen fügt sich – von gelegentlichen Zweifeln und Aufständen geprägt- in die Rolle ihrer Zeit. Anstatt die konventionellen Fesseln des gesellschaftlichen Korsetts zu sprengen und selber zu studieren, wovon im übrigen auch Else Ury ein Leben lang träumte, endet das Nesthäkchen im letzten Buch der neun Romanbände als Arztgattin und dreifache Mutter.
Es lag nicht in der sanftmütigen Natur Urys, Rebellisches zu formulieren, meint die Historikerin Marianne Brentzel. Eine Gesinnung, die auch ihr weiteres Schicksal bestimmen sollte – als Jüdin, die sich patriotisch ganz der deutschen Heimat verschrieb und darum blind machte für die Gefahren des Nationalsozialismus.
„Else Ury erlebte den 30. Januar 1933, der als Tag der Machtergreifung in die Geschichte eingegangen ist, nicht als existenzielle Bedrohung. Wie die meisten Deutschen begrüßte sie die ‚nationale Erhebung‘ und hoffte, dass das Elend der Nachkriegsjahre zu ende wäre und eine neue Zeit begonnen hätte.“
Für viele Deutsche war das Lesen der Mädchen- und Frauenliteratur – vor allem der Nesthäkchen-Serie ein Stück Kulturgut. Teil ihrer Jugend und Identität. Heiter poetisch, moralisch, obgleich niemals belehrend. Die Ury wurde gleichermaßen von Jung und Alt verehrt; schrieb sie doch über eine vermeidlich „goldene Kindheit“.
Doch das Bild von temperamentvollen und eigensinnigen Heldinnen wie dem „Nesthäkchen“ widersprach dem neuen Frauenbild der Nazis
„Mädchen sollten anders sein als Urys Nesthäkchen: Nicht kess, nicht fraulich, nicht widerspenstig und schon gar nicht studiert. Die neue Frau musste hart sein, ihre Pflicht eisern erfüllen, dem Soldaten eine echte Lebenskameradin werden, kein Mitleid kennen und ihre Kinder im soldatischem Geiste erziehen.“
Für Else Ury kam das Schreibverbot völlig unerwartet. Wollte man nur die Jüdin treffen oder auch ihre Bücher? Bis zuletzt hält sie den Nationalsozialismus für ein vorübergehendes Phänomen. Ein fataler Irrtum.
„Nach der Festlegung der Wannseekonferenz gehörte sie als alte und prominente Frau von 65 Jahren eigentlich in den Kreis derer, die in das ‚Altersghetto‘ nach Theresienstadt überstellt werden sollten... Es war reine Willkür, dass Else Ury direkt nach Auschwitz deportiert wurde.“
Während Nesthäkchen bereits 1925 in den Werken Urys vielfache Großmutter ist, findet Else Ury s im Alter von 65 Jahren ein furchtbares Ende. Ihre Romanfigur Nesthäkchen, Annemarie Braun, lebt indes weiter. Bis heute wurden fast sieben Millionen Exemplare verkauft. Selbst die Verbote während der Nazizeit und der DDR konnten der Beliebtheit der kleinen Berliner Göre mit dem blonden Lockenschopf nichts anhaben.
Marianne Brentzel: Mir kann doch nichts geschehen.
Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury
Edition Ebersbach, Berlin, 2007
„Die Anweisung vom Reichsicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleindungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen... Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben.“
Der große Erfolg von „Nesthäkchen kommt ins KZ“, vor rund 15 Jahren, brachte für die Historikerin Marianne Brentzel den Stein erst ins Rollen. Immer wieder traf sie während ihrer vielen Lesungen und Vorträge über das Leben der Else Ury auch auf Zeitzeugen. Kleine Details und zufällige Informationen, nebst Erzählungen der Mitdeportierten Else Urys, verdichteten sich schließlich zu einem ganz neuen Bild der beliebtesten Autorin für Mädchen- und Frauenliteratur Deutschlands. Sichtbar wird eine Seite Else Urys, über die man bislang nur wenig wusste: ihre jüdische Herkunft. Der Berlin-Historiker Peter Eichhorn:
„Else Ury wurde in eine Familie geboren, die den jüdischen Glauben in sich trug, ihn auch im Alltag lebte. Und wir haben es hier mit einem Judentum zu tun, das sich aber sehr stark auch Deutsch definiert.“
Else Ury bekannte sich sehr wohl zu ihren jüdischen Wurzeln, in ihren Büchern gab sie darüber jedoch so gut wie nichts preis. Hielt sie ihre Nesthäkchenserie bewusst konfessionell neutral? Marianne Brentzel bejaht:
„Ihre Bücher sollten für alle lesbar sein, ganz gleich welcher Religion oder Herkunft.“
Die Assimilierung war mehr als nur eine Überlebensstrategie, sie war eine Selbstverständlichkeit für Deutsche Juden wie Else Ury. Abgesehen davon gab es Wichtigeres. Else Ury musste schließlich in eine Zeit hineinwachsen, in der es die Rolle der Frau neu zu definieren galt. Peter Eichhorn:
„Else Ury war womöglich die verunsicherte Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die gerne neue Freiheiten der Frau im Berufsleben gedacht und vielleicht auch weiter verwirklicht hätte, aber es dann doch nicht durfte oder nicht konnte.“
Von der eigenen Erziehung als höhere Berliner Tochter während der Kaiserzeit geprägt, lässt Ury ihre kleine Heldin Annemarie artig mit Puppen spielen, fleißig musizieren anstatt zu toben, und Angemessenes auf dem Mädchengymnasium erlernen. Nesthäkchen fügt sich – von gelegentlichen Zweifeln und Aufständen geprägt- in die Rolle ihrer Zeit. Anstatt die konventionellen Fesseln des gesellschaftlichen Korsetts zu sprengen und selber zu studieren, wovon im übrigen auch Else Ury ein Leben lang träumte, endet das Nesthäkchen im letzten Buch der neun Romanbände als Arztgattin und dreifache Mutter.
Es lag nicht in der sanftmütigen Natur Urys, Rebellisches zu formulieren, meint die Historikerin Marianne Brentzel. Eine Gesinnung, die auch ihr weiteres Schicksal bestimmen sollte – als Jüdin, die sich patriotisch ganz der deutschen Heimat verschrieb und darum blind machte für die Gefahren des Nationalsozialismus.
„Else Ury erlebte den 30. Januar 1933, der als Tag der Machtergreifung in die Geschichte eingegangen ist, nicht als existenzielle Bedrohung. Wie die meisten Deutschen begrüßte sie die ‚nationale Erhebung‘ und hoffte, dass das Elend der Nachkriegsjahre zu ende wäre und eine neue Zeit begonnen hätte.“
Für viele Deutsche war das Lesen der Mädchen- und Frauenliteratur – vor allem der Nesthäkchen-Serie ein Stück Kulturgut. Teil ihrer Jugend und Identität. Heiter poetisch, moralisch, obgleich niemals belehrend. Die Ury wurde gleichermaßen von Jung und Alt verehrt; schrieb sie doch über eine vermeidlich „goldene Kindheit“.
Doch das Bild von temperamentvollen und eigensinnigen Heldinnen wie dem „Nesthäkchen“ widersprach dem neuen Frauenbild der Nazis
„Mädchen sollten anders sein als Urys Nesthäkchen: Nicht kess, nicht fraulich, nicht widerspenstig und schon gar nicht studiert. Die neue Frau musste hart sein, ihre Pflicht eisern erfüllen, dem Soldaten eine echte Lebenskameradin werden, kein Mitleid kennen und ihre Kinder im soldatischem Geiste erziehen.“
Für Else Ury kam das Schreibverbot völlig unerwartet. Wollte man nur die Jüdin treffen oder auch ihre Bücher? Bis zuletzt hält sie den Nationalsozialismus für ein vorübergehendes Phänomen. Ein fataler Irrtum.
„Nach der Festlegung der Wannseekonferenz gehörte sie als alte und prominente Frau von 65 Jahren eigentlich in den Kreis derer, die in das ‚Altersghetto‘ nach Theresienstadt überstellt werden sollten... Es war reine Willkür, dass Else Ury direkt nach Auschwitz deportiert wurde.“
Während Nesthäkchen bereits 1925 in den Werken Urys vielfache Großmutter ist, findet Else Ury s im Alter von 65 Jahren ein furchtbares Ende. Ihre Romanfigur Nesthäkchen, Annemarie Braun, lebt indes weiter. Bis heute wurden fast sieben Millionen Exemplare verkauft. Selbst die Verbote während der Nazizeit und der DDR konnten der Beliebtheit der kleinen Berliner Göre mit dem blonden Lockenschopf nichts anhaben.
Marianne Brentzel: Mir kann doch nichts geschehen.
Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury
Edition Ebersbach, Berlin, 2007