Neil MacGregor

Deutschlands Denkmale sind anders

Der Direktor des British Museum in London, Neil MacGregor
Der Direktor des British Museum in London, Neil MacGregor © AFP / Jack Guez
18.09.2015
Der Brite Neil MacGregor hat seinen Landsleuten Deutschland durch eine wunderbare Radio-Serie in der BBC näher gebracht. Aus diesen Texten entstand das Buch "Deutschland. Erinnerungen einer Nation". Einige Ausschnitte können Sie hier lesen und hören.
Folge 1 (aus: Einleitung. Denkmale und Erinnerungen)
Deutschlands Denkmale sind anders als die anderer Länder.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Besucher, ob sie nach Paris, London oder nach München kamen, in jeder dieser Städte von einem Triumphbogen im römischen Prunkstil begrüßt, der an die nationalen Siege in den Kriegen erinnern sollte, die Europa zwischen 1792 und 1815 erschüttert hatten... Wellington Memorial Arch, Arc de Triomphe...

Rezension zum Buch von Neil MacGregor auf Deutschlandradio Kultur:
Deutsche Geschichte im Schnelldurchlauf - von Jürgen König

Das Münchner Siegestor wurde in den 1840er-Jahren errichtet, um den Heldenmut Bayerns in den Revolutions- und Befreiungskriegen zu feiern. Wie sein römisches Vorbild, der Konstantinsbogen, ist auch das Siegestor reich geschmückt. .. Über dem Tor erhebt sich die Bronzefigur der Bavaria in ihrer von Löwen gezogenen Quadriga. .. Unter der Figur die Inschrift: "Dem Bayrischen Heere", um die zu ehren, für deren Heldentaten das Tor errichtet wurde.
So weit, so konventionell. ... Was den Münchner Triumphbogen jedoch so interessant macht, ist seine Südseite, denn sie erzählt eine ganz anderre Geschichte. Das Siegestor wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, doch bei seiner Restaurierung wurden keinerlei Anstalten gemacht, auch die von Bomben zerstörten Reliefs der Südseite vollständig wiederherzustellen. Auf der Südseite zeigt das obere Register eine nackte Steinfläche, sonst nichts. Am unteren Rand dieser großen Leere stehen die Worte: "Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend".
Wo die Bögen in London und Paris auf Augenblicke der größten Erfolge zurückblicken und damit eine wohltuende, wenn auch selektive Erzählung des nationalen Triumphs präsentieren, da spricht das Münchner Tor von beidem: vom gloriosen Anlass seiner Errichtung und von den Umständen seiner späteren Zerstörung. Anders als bei den beiden anderen Toren steht der ursprünglich feierlichen Absicht eine eher quälende Erinnerung an Niederlage und Schuld entgegen. ...
Damit haben wir vielleicht am genauesten bezeichnet, welche Rolle Geschichte in Deutschland spielt: Sie liefert nicht nur ein Bild der Vergangenheit, sondern führt das Vergangene entschieden und mahnend nach vorne, in die Zukunft.
Folge 2 (aus: Kapitel 2: Geteilter Himmel)
Der geteilte Himmel, ein Roman der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf, erschien 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau. Er begründete Christa Wolfs Ruhm und galt lange Zeit als der nachdenklichste, ergreifendste Bericht über das Auseinandergehen der beiden deutschen Staaten, gesehen aus ostdeutscher Perspektive. ...
[Der Roman] ist bemerkenswert offen, was die Defizite der DDR, die Kluft zwischen hohen Idealen und alltäglichen Kompromissen und Ausflüchten angeht. Was bleibt, Wolfs Erinnerungen an die verunsichernde Erfahrung eines Lebens unter Beobachtung, ist 1979 entstanden. Veröffentlicht hat sie das Buch jedoch erst 1990, nach dem Fall der Mauer. Sein Erscheinen löste ein literarisches Gewitter aus. Kritiker, zumeist aus Westdeutschland, beschuldigten die Autorin der Feigheit; auch noch schwerwiegendere Vorwürfe waren zu hören: Sie habe das Buch nicht zu DDR-Zeiten veröffentlicht, als die Stasi tätig war.. . Stattdessen, so die Unterstellung, habe sie geschwiegen, sei Komplizin geworden und habe sich weiterhin der Privilegien erfreut, die ihr als weltbekannter Autorin und milder Kritikerin des Systems gewährt worden seien.
Und es sollte noch schlimmer kommen. Zunächst hatte sie über ihren Widerwillen, ihre Ablehnung des Bespitzelungssystems der DDR öffentlich gesprochen und auch darüber geschrieben. Dann, Anfang der 1990er Jahre, als die Stasi-Unterlagen zugänglich gemacht worden waren, begann sie zu studieren, was die Stasi in 42 Aktenbänden über sie zusammengetragen hatte. Zu ihrer großen Überraschung und ihrem noch größeren Entsetzen fand sie dort eine Reihe von Berichten, die sie selbst zwischen 1959 und 1961 für die Stasi verfasst hatte. ... Sie hatte das vollständig vergessen. ...
Wie konnte sie diese Erinnerung so vollständig verdrängt haben, dass sie sie schließlich vergaß? Wie konnte sie so leichtgläubig gewesen sein, so willig, sich den Behörden zu beugen? Diese Fügsamkeit, so ihre Erklärung, ihr Wunsch, den Staat in jeder Weise, die von ihr verlangt wurde, zu unterstützen, könne nur ein Erbe ihrer Kindheit unter dem NS-Regime gewesen sein. Sie sei, wie so viele ihrer Generation, auf Konformismus konditioniert worden. Die Fähigkeit ihres Bewusstseins, beschämende Erinnerungen zu verdrängen, könne sie nur konstatieren, nicht entschuldigen.
Folge 3 (aus: Kapitel 10: Ein Volk, viele Würste)
Eine "Wurst-Karte" von Deutschland wäre ein Mosaik von kaum zu erfassender Komplexität. Natürlich gibt es die internationalen Berühmtheiten wie die Frankfurter, doch Bayern kann weitere Stars ins Rennen schicken, die Nürnberger und die Regensburger etwa, dann die fränkische Bratwurst, Sachsen wird antreten mit der Bregenwurst, Bremen mit Pinkel, Pommern schickt die Teewurst, und das sind noch längst nicht alle! 1.200 Sorten, sagt man, sollen es sein. In deutschem Bier und deutschen Würsten verkörpern sich Jahrhunderte nationaler, regionaler und lokaler Geschichte, sie sind lebendige Zeugnisse der Diversität.. .
Die bescheidenste, einfachste aller Würste bekommt man, meist in einem Brötchen serviert, in Deutschland an jeder Ecke..: fein gehacktes Fleisch wird zu einem Brei, dem Brät, verarbeitet und leicht geräuchert.. .
Doch derart bescheiden kam das Frankfurter Würstchen nicht auf die Welt: Diese Würste haben einen kaiserlichen Stammbaum. Über Jahrhunderte war der Frankfurter Dom die Krönungskirche der Römischen Kaiser. Zu den anschließenden Feierlichkeiten gehörte es, dass ein Ochse geschlachtet, ausgenommen und, mit Würstchen gefüllt und am Spieß gebraten wurde. Diese Würste waren aus feinst gehacktem Schweinefleisch – darum auch teuer -, Würste, in denen viel Arbeit und Zeit steckte, ein dem großen Ereignis angemessener Luxus. Aber nicht nur Menschen, auch Würstchen können tief fallen. Die Frankfurter Imbisswurst hat einen tiefen Sturz hinter sich. ...
Im späten 19. Jahrhundert wurde die Lebensmittelproduktion in Deutschland wie anderswo auch mechanisiert, und das Wurstmachen, traditionell ein häusliches Gewerbe, blieb davon nicht unbetroffen. Mit den neuen Maschinen konnte nun jedes Fleisch fein zerkleinert werden, mit dem geringeren Aufwand wurden auch die Wurstwaren billiger (ein Prozess, durch den das Frankfurter Würstchen entthront wurde). Industriell hergestellte Wurstwaren wurden zum Massenprodukt für die proletarische Unterschicht, besonders in Berlin, der damals am schnellsten wachsenden Stadt Europas. Aber nun konnte man nicht mehr sicher sein, was sich tatsächlich in der Wurstmasse befand. Darum die berühmte, wenn auch möglicherweise apokryphe Bemerkung Bismarcks, dass die Bürger weder von Gesetzen noch von Würsten genau wissen wollten, wie sie gemacht würden.
Folge 4 (aus: Kapitel 12: Den Geist schnitzen)
Tilman Riemenschneider. Außerhalb Deutschlands ist [er] nicht allzu bekannt, obwohl er .. in seiner intensiven und subtilen Erkundung des Spirituell-Seelischen mit Donatello vergleichbar ist. ... Die Vier Evangelisten, heute im Berliner Bode-Museum, gehörten ursprünglich zur 1492 vollendeten Predella des Altars der Magdalenenkirche in Münnerstadt bei Würzburg. Die 15 Meter hohe, vielfigurige Komposition des Altars, der Maria Magdalena gewidmet war, dominiert den Ostchor der Kirche mit Figuren, die dem Himmel entgegenstreben.. . Die sitzenden Figuren der vier Evangelisten, jede gut siebzig Zentimeter hoch, bildeten die Basis des Hochaltars, direkt über dem Altartisch. Wenn der Priester die Messe zelebrierte, wobei er nach katholischer Lehre Christus selbst repräsentiert, befand er sich auf Augenhöhe mit Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. In ihrer Gegenwart verlas er die Evangelien, die sie geschrieben hatten. Nur wenige Meter davor knieten die Gläubigen. Die Evangelisten sind also Bildwerke, die geschaffen wurden, damit man sie oft und aus der Nähe betrachtet, wie mit Gefährten sollten die Gläubigen mit ihnen leben, jedes Mal mit ihnen kommunizieren, wenn die Messe gelesen und die Hostie empfangen wird. Mit diesem gen Himmel strebenden Altar schuf Riemenschneider einen heiligen Rahmen, in dem sterbliche Akteure ihre ewigen geistlichen Funktionen ausüben konnten. In diesem Sinn könnte man den Altar auch als emblematisch für den Aufbau des Heiligen Römischen Reiches insgesamt begreifen: Auch das Reich war ein heiliger, mit Referenzen an das Leben und die erlösenden Leiden Christi durchsetzter Rahmen, innerhalb dessen sterbliche Akteure – Kaiser, Fürsten, Kaufleute – ihren gottgegebenen Rollen entsprechend lebten. ...
Zusammengehalten wurde das Heilige Römische Reich seiner Idee nach in einem hohen Maße vom römisch-katholischen Glauben: Wie immer die alltägliche Machtausübung auch aussehen mochte, alle politischen Funktionen wurden in einem theologischen Bezugsrahmen formuliert und vollzogen. Ein Vergleich mit der Beziehung zwischen dem gegenwärtigen chinesischen Staat und der traditionellen, orthodox marxistisch-leninistischen Lehre des Kommunismus ist vielleicht nicht allzuweit hergeholt. Wenn mit der Reformation also ein neues, verändertes Verständnis des christlichen Glaubens aufkam, dann stand die Idee des Heiligen Römischen Reichs insgesamt in Frage.
Folge 5 (aus: Kapitel 7: Schneewittchen gegen Napoleon)
"Rapunzel war das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppen noch Türen hatte..."
Die meisten von uns kennen diese Geschichten. ... Eines ist ihnen allen gemeinsam: Jedes Mal spielt die Handlung in den Wäldern. Dort, in den dunklen und beängstigenden Wäldern, erweist sich Charakterstärke, dort wird das Böse überwunden. ...
Archetypisch deutsch ist der Teutoburger Wald östlich von Bielefeld. Dort wachsen Kiefern, Buchen und Eichen. Der Wald ist riesig, grün und dicht, gruselig und dunkel, gemütliche Holzhütten gibt es da und erschreckend wilde Tiere. Kommt man vom Weg ab, wird man vielleicht nie mehr gesehen. Zudem ist dieser Wald ein Ort von enormer nationaler Bedeutung, denn im Jahr 9 n. Chr. war er Schauplatz eines großen deutschen Siegs über Rom, grimmig-respektvoll berichtet vom römischen Geschichtsschreiber Tacitus. ... Hier im Teutoburger Wald, so die patriotische Legende, wurde eine Nation geboren im Widerstand gegen römische Aggression und Besatzung. ...
Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts waren die Aggressoren keine Römer, sondern deren gallische Nachfahren, die Franzosen. Aber dieses Mal hatten sie die Deutschen nicht einfach nur angegriffen, sie hatten sie erobert. ...
Ein Buch ist bis heute in fast jedem deutschen Haushalt zu finden, nämlich die Kinder- und Hausmärchen, erzählt von Jacob und Wilhelm Grimm. Ihr ganzes Leben lang haben die Brüder Märchen gesammelt, und ihre Sammlung erschien in vielen Auflagen; die erste 1812, gerade als der militärische Widerstand gegen Napoleon an Stärke gewann. ...
Die Grimmschen Märchen waren Element einer politischen und sozialen Renaissance des Deutschen, ... die Grimm-Brüder haben ... eine Antwort geliefert auf die Frage: Wer sind wir denn jetzt? Maler, Historiker und Schriftsteller begannen sich zurückzuwenden zu Hermann, der zur Gründungsfigur der Nation wurde. ...
Heute kommen jedes Jahr über 100.000 Besucher, um das Hermannsdenkmal zu bewundern, die Kolossalstatue im Teutoburger Wald südwestlich von Detmold. ...
Die meisten Deutschen finden die schrille Aggressivität des Hermannsdenkmals heute (aber) eher abstoßend .. . 2009 fanden an diesem Ort keine Feiern statt zur Erinnerung an den 2000. Jahrestag des Ereignisses, das lange als Gründungsakt der nationalen Identität Deutschlands galt. Ganz ohne Feier freilich ging dieser Tag nicht vorüber. In Herman, Missouri, der von deutschen Siedlern 1830, in der Hochzeit des Hermannskults, gegründeten Stadt, wurde des Billenniums durch die Errichtung einer Statue in der Market Street gedacht, die den Bezwinger der römischen Legionen zeigt.
Folge 6 (aus: Kapitel 22: Die leidende Zeugin)
Kann eine Mutter, die ihr totes Kind im Arm hält, allein für das Leiden eines ganzen Kontinents, eines ganzen Jahrhunderts stehen? Über diese Frage entspann sich eine so heftige wie schmerzliche Debatte. Ausgelöst hatte sie Helmut Kohl, der als Bundeskanzler .. 1993 entschied, den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft in der Neuen Wache, .. im Herzen Berlins, ein Mahnmal zu widmen. Deren Innenraum .. enthält nur ein Objekt... die Skulptur einer Mutter, die ihren toten Sohn schützend im Arm hält. Sie, die vergrößerte Version eines Werks von Käthe Kollwitz, spricht wortlos zu allen Besuchern der Neuen Wache von den abermillionen Toten, die Krieg und Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert zum Opfer fielen.
Leben und Tod der Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz waren geprägt von der preußischen Geschichte. Ihre Lebenszeit fällt ziemlich genau zusammen mit der Zeit von Preußens Erfolgen unter Bismarck in den 1860er Jahren, als es Deutschland unter seiner Führung vereinigte, und der physischen Zerstörung Preußens, seiner Auslöschung als Staat, seinem Verschwinden von der Landkarte Europas nach 1945. ...
Die Wohnung des Ehepaars Kollwitz am Prenzlauer Berg, damals ein Berliner Arbeiterviertel, war so klein, dass sie nicht mit großen Leinwänden und Ölfarben arbeiten konnte. Sie verlegte sich auf Druckgrafik. Während ihres ganzen Lebens schuf sie immer wieder Selbstbildnisse – eines .. zeigt sie 1904 als Siebenunddreißigjährige. Das Bildnis ist eines ihrer großartigsten, nur wenige Originaldrucke sind erhalten. Der Kopf wird in Braunschattierungen gezeigt, die von fleischfarben bis zu tiefem Dunkel reichen – eine attraktive Frau in tiefen Gedanken, ihre Blick, ruhig und bestimmt.. .
Ihren letzten Druckzyklus schuf sie 1935, acht Lithographien mit dem einfachen Titel Tod. Das .. letzte Bild der Folge, Ruf des Todes, zeigt sie als Sterbende, ein Selbstbildnis als alte Frau, die sich nach vorn lehnt und den linken Arm hebt, während sich ihr rechter Arm einer schemenhaften Hand entgegenstreckt, die von oben her nach ihr greift. Das Gesicht ist erkennbar das gleiche wie im Selbstbildnis, das dreißig Jahre zuvor entstanden war, aber gezeichnet und eingefallen durch die Erfahrungen jener dunklen drei Jahrzehnte. Man könnte darin fast ein Selbstporträt Deutschlands in diesen Jahren sehen.

Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation
Aus dem Englischen von Klaus Binder
Verlag C. H. Beck, 2015, 640 Seiten, 39,95 Euro
Informationen des Verlags C.H. Beck zum Buch

Mehr zum Thema