Fritz Bauers Vermächtnis

Die letzten Nazi-Täter endlich verurteilen

Undatierte Schwarz-Weiß-Porträtaufnahme des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in den Nachkriegsjahren.
Dem früheren Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist es zu verdanken, dass es in Deutschland überhaupt möglich wurde, Hitlers Handlanger juristisch zu verfolgen, so Publizistin Sharon Adler. © picture alliance / dpa / E. Braunsperger/ H.-J. Göttert
Ein Kommentar von Sharon Adler · 01.03.2023
Trotz ihres hohen Alters wird gegen frühere KZ-Aufseher oder Sekretärinnen im NS-System ermittelt. Manche fordern, sie in Ruhe zu lassen. Das dürfen wir nicht, findet die Publizistin Sharon Adler. Wegen der Opfer – und wegen Menschen wie Fritz Bauer.
Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher und -verbrecherinnen kommen langsam wieder in Gang in Deutschland. 77 Jahre nach Ende der Nürnberger Prozesse finden seit ein paar Jahren vereinzelte Gerichtsverfahren statt: Es sind höchstwahrscheinlich die letzten. Standen in Nürnberg vor allem die Nazi-Größen vor Gericht, wurden deren willige Handlanger jahrzehntelang juristisch nicht verfolgt.
Dafür, deren Verfolgung und Verurteilung juristisch überhaupt möglich zu machen, kämpfte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Gegen Widerstände im Justizapparat gegen eine übermächtige Lobby von Staatsanwälten setzte er sich für eine Reform des Straf- und Strafvollzugsrechts ein. Fritz Bauer war Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse.

Man kann sie nicht in Ruhe lassen

In diesem Jahr jährt sich deren Beginn zum 60. Mal. Wo stehen wir heute? Der Prozess gegen die Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig 2018/2019 in Münster oder der gegen den SS-Wachmann in Stutthof 2020 in Hamburg waren Thema in Tageszeitungen wie Nachrichtensendungen.
Doch: Welche Bilder sehen die Menschen, die in den Nachrichten die Prozesse verfolgen? Erfahren sie mehr über das Schicksal der Nebenklägerinnen und Nebenkläger, der Überlebenden und ihrer Nachfahren? Nein, denn es sind vor allem Bilder von Greisen, die im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben werden.
Warum muss man "die alten Leutchen" denn "noch heute" vor Gericht zerren, heißt es da in den Kommentarspalten zur Berichterstattung, und: "man habe ja damals unter einem gewissen Druck gestanden", oder: "Kann man die nicht einfach in Ruhe lassen?"
Ich denke: Nein, das kann man nicht. Im Gegenteil: Wie kann es sein, dass diese "alten Leutchen" jahrzehntelang unbehelligt ihr Leben leben durften, während die, die von ihnen gequält wurden, gezwungen waren, die Erinnerung daran bis in die zweite und dritte Generation weiterzugeben?

Doku gibt Überlebenden eine Stimme

"Warum so spät", fragen die Überlebenden. "Why did they wait so long?"
Antworten auf diese Fragen gibt ein Film, der seit Anfang Februar in den Kinos läuft: „Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht“. Die Doku stellt die Prozesse von heute in den Fokus, die Urteile, das deutsche Rechtssystem. Vor allem aber gibt sie den Überlebenden eine Stimme: Der in den USA lebenden Judith Meisel und der in Israel lebenden Roza Bloch. Diese beiden Frauen haben 77 Jahre auf die Prozesse gewartet.
Der Film zeigt auch, dass die Strafverfolgung von NS-Verbrechern unerwünscht war, ja, torpediert wurde durch juristische Spitzfindigkeiten, durch Verschleppung, durch Vertuschung, durch Desinteresse. Der SS-Wachmann aus Stutthof wurde der Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und der Beihilfe zum versuchten Mord in einem Fall schuldig gesprochen. Ins Gefängnis muss er nicht. Er bekam eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Auch die Sekretärin wurde lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen. Das ist nicht nur für die Nebenklägerin schwer nachvollziehbar.
Außerdem: Wie viele Wachmänner oder Aufseherinnen laufen noch frei herum oder leben irgendwo in Pflegeheimen? Diese endlich zu verurteilen wäre ganz sicher im Sinne von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.

Sharon Adler, 1962 in Berlin-West geboren und in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Holland und Israel aufgewachsen, ist Fotografin, Publizistin, Moderatorin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin und Vorstandsvorsitzende der Stiftung Zurückgeben.

Porträt Sharon Adler im hellblauen Mantel vor einer Bücherwand.
© Mara Noomi Adler
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