Nationalstaat

Warum hängen linke Politikentwürfe an der Nation?

"Wir machen alles mit Links" steht auf dem Aufkleber, der auf einem Halteverbots-Schild in Berlin klebt.
Mit dem Spruch "Wir machen alles mit links" wirbt die SPD auf einem Verkehrsschild. © dpa / picture alliance / Stephanie Pilick
Von Armin Nassehi · 07.04.2015
Lange Zeit wurden Konzepte wie Nation und Nationalismus der politischen Rechten zugerechnet. Doch in Zeiten des globalisierten Kapitalismus gilt das nicht mehr, meint der Soziologe Armin Nassehi. Heute halten eher die Linken am Nationalstaat fest.
„Die Arbeiter haben kein Vaterland." Das haben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" notiert. Das war im Jahr 1848. Und seither stehen linke Politikentwürfe für Internationalismus. Und es stimmte ja auch: Die Umwälzungen der Industrialisierung haben die Arbeiter entwurzelt. Gleichzeitig ist es aber auch falsch, denn es fand im 19. Jahrhundert eben auch eine politische Revolution statt, die jene nationalstaatliche Ordnung etabliert hat, die bis heute Grundlage der europäischen Ordnung ist. Als allein ökonomische Akteure hatten die Arbeiter in der Tat kein Vaterland, als politische Bürger freilich schon.
Nur der Staat kann die Ungleichheitseffekte des Kapitalismus mildern
Aus dieser Spannung sind die politischen Konflikte der westlichen Moderne bis heute gemacht. Politik kennt als Erfolgsbedingung nur Wählbarkeit und Massenloyalität, die Ökonomie dagegen muss sich auf Märkten bewegen. Sie kann weder auf Solidarität zählen, noch kann sie Solidarität stiften. Politik dagegen muss kollektive Räume erzeugen, in denen Ausgleich stattfindet – vor allem ein Ausgleich bei der Verteilung von Gütern. Und darin unterscheiden sich diese gesellschaftlichen Bereiche ganz grundsätzlich.
Entscheidend ist also das Verhältnis von wirtschaftlichem und politischem Handeln.
Eine liberale Perspektive möchte den Staat möglichst aus jeder wirtschaftlichen Dynamik heraushalten. Eine konservative Perspektive arrangiert sich mit den Ungleichheitseffekten einer modernen Gesellschaft. Und eine linke Perspektive glaubt an einen Staat, der die Ungleichheitseffekte der kapitalistischen Wirtschaft durch zentrale Regulierung mindert.
Deshalb sind gerade linke Politikentwürfe nicht nur nah am Staat gebaut, sondern wünschen sich auch einen besonders aktiven Staat. Und weil staatliche Politik sich nun einmal vor allem in nationalen Wahlen bewähren muss, hat der Arbeiter eben doch ein Vaterland: den Staat nämlich, der für jene Solidaritätszumutungen sorgt, die eine Umverteilung erst möglich machen.
"Vaterlandslose Gesellen" von heute: die Unternehmer
Niemand hat das deutlicher vorgeführt als Wolfgang Streeck, ehemaliger Direktor des Max-Plank-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln in seinem Buch "Gekaufte Zeit"". Seine radikale Kritik des ökonomischen Neoliberalismus beklagte den Internationalismus der Wirtschaft, wohingegen Solidarität nur im Rahmen des mehr oder weniger homogenen Nationalstaates möglich sei. In der Konsequenz weiter gedacht lautet sein Vorwurf, der Unternehmer sei ein vaterlandsloser Geselle – ein Vorwurf, den Konservative früher den Sozialdemokraten machten.
Was für merkwürdige ungewollte Koalitionen sich da auftun. Solchen linken Politikmodellen kann letztlich nur dieselbe falsche Idylle einer nationalstaatlichen Autonomie als argumentativer Anker dienen wie den rechten Liebhabern der kulturellen Homogenität. Fragen drängen sich auf: Wie können linke Politikmodelle einen solchen Nationalismus überwinden, ohne einen Liberalismus zu predigen, der sich dem freien Spiel der Kräfte völlig ausliefert? Und könnte ein Liberalismus heute wirklich ein Interesse daran haben, dass staatliche Politik zahnlos wird?
Das alte Problem des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft besteht fort. Ob es in den alten Chiffren zwischen linkem Nationenzentrismus und liberaler Staatsferne gelöst werden kann, ist dabei mehr als fraglich. Wahrscheinlich müssen ganz neue Formen der Übersetzung zwischen politischen und ökonomischen Denkungsarten gefunden werden.

Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wuchs in Deutschland und im Iran auf, studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Sozialwissenschaften. Armin Nassehi arbeitet zu politischen und kulturellen Themen. Seit Herbst 2011 ist er neuer Herausgeber des Kursbuches. Sein Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit – Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss" erschien im Frühjahr 2015 im Murmann Verlag.

Soziologe Armin Nassehi.
© imago / Horst Galuschka
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