Nationalismus

EU-Kritik ist die Angst vor einer fehlenden Identität

Die Flagge Großbritanniens und die der Europäischen Union
Ende Juni wollen die Briten über ihren Austritt aus der Europäischen Union abstimmen. Aber war vor Brüssel wirklich alles besser? © Facundo Arrizabalaga, dpa picture-alliance
Von Klaus Weinert · 30.05.2016
War vor der Europäischen Union wirklich alles besser? Wir haben keine wirkliche Idee mehr, was unsere Nationen eigentlich sind, meint Klaus Weinert. Die Angst vor Fremden ist nichts anders als die eigene Verunsicherung, die Suche nach Identität durch Rückzug in die eigenen vier Wände.
Am 23. Juni werden die Briten darüber abstimmen, ob sie in der Europäischen Union bleiben oder nicht. Bereits am 6. April hatte sich eine kleine Anzahl Niederländer, jene zirka 30 Prozent, die an der Wahl teilgenommen hatten, gegen das Abkommen der EU mit der Ukraine gestellt.
Brüssel und die Arbeit Jean-Claude Junckers ist für viele Europäer, besonders für die Engländer und neuerdings auch die Polen, Ungarn oder die Bürger Tschechiens, zur Inkarnation eines bürokratischen Monsters geworden, das die Längen von Gurken vorschreibt und die Glühbirnen, die wir zu verwenden haben und die nationale Identität in Frage stellt.

Nationalstaaten wissen nicht mehr, wofür sie stehen

Die Kritik an Brüssel spiegelt aber häufig die Unzulänglichkeiten der Nationalstaaten selbst. Wer ist schuld an der Deindustrialisierung Englands, an den scharfen sozialen Spannungen? Etwa Brüssel? Und bedroht wirklich die westliche Politik Polen in seiner Identität? Und glaubt Deutschland mit seiner Willkommenskultur von Angela Merkel beispielhaft für Europa zu sein? Spiegeln diese Entwicklungen nicht bloß ad hoc-Entscheidungen, die mehr von moralischen oder schwammigen nationalen Zügen bestimmt sind, als von einer gesicherten nationalen Identität?
Was wir Europäer wollen, ist einfach deshalb unklar, weil die Nationalstaaten selbst nicht mehr so genau wissen, für was sie eigentlich stehen, wie ihre Gesellschaften in Zukunft aussehen sollen und welches Verhältnis sie zur außereuropäischen Welt überhaupt anstreben. Wir laufen wieder alten Mythen hinterher, von eigener nationaler oder verschmähter Größe, und suchen Schuldige außerhalb der Landesgrenzen.
Aber Nationen waren schon immer zusammengesetzte Gebilde, rassisch nie eindeutig, beeinflusst von anderen Völkern, Engländer von Kelten und Römern, Polen von Balten und Reitervölkern der asiatischen Steppe, und noch heute sind viele Stämme der deutschen Sprache römischen Ursprungs. Auch eine einzige Sprache ist daher nur ein schwacher Beweis zu einer Nation zu gehören. Wäre sie Voraussetzung, dann wäre die Schweiz keine Nation.

EU-Nationen haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede

Welcher Engländer, Pole, Franzose oder Deutsche kann definitiv sagen, welches genau seine Kultur, seine Eigenheit, seine Identität ist? Würde der normale Bürger auf der Straße darüber einen Aufsatz schreiben müssen, unvoreingenommen von nationaler Indoktrination der Eliten, dann würden wir mehr Gemeinsamkeiten entdecken als Unterschiede. Nur jene, die sich verführen lassen von alten nationalen Erzählungen, notierten vermutlich ein verklärendes Konglomerat aus der Vergangenheit, in trennender Absicht gegenüber anderen Nationen und Menschen, so wie das seit dem 19. Jahrhundert, der beginnenden Blütezeit des Nationalismus‘, immer wieder geschah; Kriege waren oft die Folge.
Sind wir ehrlich. War vor der Europäischen Union wirklich alles besser? Konnten wir wirklich nationaler und für die Menschen in unseren Ländern bessere Entscheidungen fällen, mehr Wohlstand erzeugen?
Nationale Gewissheiten sind in unserer globalen Welt brüchig geworden, weil der Kapitalismus nicht nur Arbeitsprozesse, sondern auch unsere Lebens-Umwelt immer ähnlicher macht. Ökonomische Effizienz braucht möglichst logistisch-gleiche Strukturen weltweit, in den Städten, in den Unternehmen. Wir müssen täglich nach rational-ökonomischen Prinzipien arbeiten, die immer komplexer werden und intellektuell anstrengend sind und an die Ausbildung hohe Anforderungen stellen. Sie vermitteln nicht sofort Sinn und geben uns nicht die Wärme nationaler Legenden, die sich in leichten Ursache-Wirkungs-Beziehungen darstellen lassen, die mittels einfacher Lösungen oder simpler Feindbilder die Welt erklären.
Brüssel ist kein Symbol dieser einfachen, simplen Weltsicht, sondern das Gegenteil, ein Sammelbecken all jener Probleme, die Europa beschäftigen. Daher ist Brüssel eigentlich die Lösung.

Klaus Weinert, Wirtschafts- und Fachjournalist. Er studierte Germanistik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaften. Weinert arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien und befasst sich mit ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen und mit Ideologien und Theorien.

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