Narzissmus

Das zwanghafte Kreisen ums Ich

30:15 Minuten
Illustration: Ein Mann macht eine Geste vor seinem Spiegelbild.
Wo hört gesunde Selbstliebe auf und wo fängt Narzissmus an? Wissenschaftlich ist die Grenze schwer zu ziehen. © imago / Ikon Images / Neil Webb
Von Johannes Nichelmann · 28.04.2022
Audio herunterladen
Sie streben nach Macht, sind hochgradig manipulativ und nehmen wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer. Doch sind Narzissten auch psychisch krank? Zumindest wird die "narzisstische Persönlichkeitsstörung" bald aus dem WHO-Krankheitsregister gestrichen.
Die Zahl der Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung steigt, heißt es. Aber stimmt das? Gestritten wird seit vielen Jahrzehnten. 1980 hieß es schon im Radio:
"Früher wenig beachtet, ist der Narzissmus heute in den Mittelpunkt der Diskussionen von Psychologen, Nervenärzten und sogar Soziologen gerückt. Die vor allem um die eigene Person kreisende Liebe ist bis heute in ihrer Macht wenig durchschaut und in ihren Auswirkungen vorurteilsvoll geächtet."
Narzissmus. Ein Begriff, der in der neuen WHO-Liste der klassifizierten Krankheitsbilder so nicht mehr auftauchen wird.
"Die Sensation ist, wir werden jetzt als Psychiater, Psychotherapeuten dazu gezwungen einfach genauer zu beschreiben. Dass man sich nicht mehr hinter diesem Begriff verstecken kann", sagt der Psychiater Claas-Hinrich Lammers.
Wie aber lässt sich über dieses Kreisen um das eigene Ich sprechen? Wo steht die Forschung zu den Ursachen? Was erleben Menschen, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung haben?

Opfer und Täter im Netz

Diese Recherche beginnt im Internet. Es ist voll mit Foren- und Blogeinträgen, Videos und Kommentaren über das Leben mit Menschen, die als Narzissten bezeichnet werden. Menschen, die sich als Opfer sehen, teilen ihr Leid, ihre Beobachtungen, ihren Schmerz.
"Ich war 28 Jahre mit einer verdeckten Narzisstin zusammen", heißt es da. Und unter einem Youtube-Video über "Fünf fiese Narzissten-Sätze" kommentiert jemand:
"Meine Beziehung war die Hölle auf Erden. Narzissten sind abgrundtiefe Monster, die man nicht heilen kann. Sie sind Psychopathen."
Oder: "Momentan geht‘s mir schlecht, seit Tagen Magenkrämpfe."
Und unter einem Youtube-Video über Tipps zum Erkennen vom "Alltagsverhalten von Narzissten" steht etwa:
"Die Arbeit an sich und das Umfeld kein Problem, aber narzisstische Chefin, die die Arbeit die ganze Zeit abschiebt, einen rücksichtslos ausnutzt."
Ob die Menschen, unter denen die Verfasserinnen und Verfasser dieser Kommentare leiden, wirklich Narzissten sind, ist schwer zu sagen. Im Netz äußern sich aber auch diejenigen, die sich als Narzissten bezeichnen. Ein Mann, der sich "IchBinNarzisst" nennt, erzählt auf Youtube regelmäßig aus seinem Leben. Er will auch im Interview anonym bleiben, ist nach eigenen Angaben Mitte 30 und kommt aus Norddeutschland.
"Der ausschlaggebende Punkt waren eigentlich die Leute in meiner Umgebung, die immer wieder gesagt haben: Du hast narzisstische Züge, man sieht es dir an, dass du ein Narzisst bist. Daraufhin habe ich mich im Internet informiert, was es überhaupt heißt, ein Narzisst zu sein. Der Begriff war mir überhaupt nicht geläufig."

Macht und Manipulation

"IchBinNarzisst" macht daraufhin einen Online-Test: Er soll zehn Aussagen bewerten. Eigeneinschätzungen, auf einer Skala von eins bis fünf. Zum Beispiel: Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren.
"Ich kann total seriös sein, ich kann total stur sein, ich kann total lieb sein, je nachdem, welches Ziel ich gerade erreichen möchte."
Der Narzissmus-Test will auch wissen: Hält er sich für eine gute Führungspersönlichkeit?
"Wenn überhaupt bin ich derjenige, der in Führungspositionen rein muss", sagt er. "Klar, ich liefere natürlich auch auf der Arbeit ab. Leider ist es momentan so, dass die Aufstiegschancen gering sind, irgendwann überlegst du dir natürlich, einen neuen Job zu suchen. Aber schlussendlich sehe ich mich irgendwo bald auch in Führungspositionen."
Weiteres Kriterium: ein starker Wille zur Macht. Und der bestimmt auch die Beziehung zu seiner Frau:
"Die Ehe läuft so lala. Sie macht wirklich jetzt über mehr als zehn Jahre die Hölle durch! Die Frau lebt am Limit. Allerdings, so einfach kommt sie auch da nicht raus. Ein Narzisst lässt seine Ehefrau nicht so einfach raus. Vor allem bei uns ist das – ich will nicht sagen Problem – aber wir haben halt eben Kinder", so "IchBinNarzisst".
"Ich glaube, sie müsste einfach verstehen, dass ich einfach ein Mensch bin, der keine andere Meinung akzeptiert außer seiner eigenen. Und wenn sie wirklich an dem Punkt angekommen ist zu sagen: ‚Okay, alles, was du sagst, stimmt‘, dann ist das wirklich so der Punkt, wo man sagen kann, jetzt kann man im Frieden leben."

Online-Tests ersetzen keine Diagnose

"IchBinNarzisst" erreicht schließlich eine hohe Punktzahl beim Online-Test. Für ihn steht fest: Er hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Aber ist es wirklich so einfach?
„Ach, das ist eine schwierige Frage! Es gibt ja diesen One-Item-Test, wo im Grunde genommen die Frage ist: ‚Würden Sie sich selbst als Narzisst bezeichnen?‘ Dann wird in Klammern gesagt, Narzissten sind Menschen, die selbstgefährlich eingebildet sind und, und, und. Das Ergebnis dieses Tests korreliert sehr hoch mit sehr komplexen Tests“, sagt Claas-Hinrich Lammers. „Ich glaube, um das sinnvoll zu diskutieren, muss man sich erst mal fragen, was ist eigentlich Narzissmus?“
Der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Hamburg-Ochsenzoll beschäftigt sich vor allem mit Patientinnen und Patienten, die unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden.
"Die Vorstellung, dass man Narzissmus genau in irgendwelchen Tabellen nachschauen kann, wäre wünschenswert, gibt es aber nicht. Es ist der Klassiker in der Paartherapie, dass der Mann von seiner Frau sagt: ‚Die hat irgendwie eine Borderline-Störung‘ und die Frau sagt vom Mann: ‚Mein Mann ist Narzisst‘. Ich glaube, das ist so ein Standardvorwurf und man kommt nicht weiter, wenn man an diesen Begriffen hängen bleibt."
Bärbel Wardetzki, Psychologin und Psychotherapeutin 
Bärbel Wardetzki, Psychologin und Psychotherapeutin behandelt seit 30 Jahren Menschen mit narzisstischer "Störbarkeit". Den Begriff Störung findet sie problematisch.© imago images / Eibner
Wir alle wollen von anderen Menschen geliebt und bewundert werden. Den meisten von uns waren die Gefühle anderer Menschen in der einen oder anderen Situationen schon mal nicht so wichtig. Außerdem: Nicht wenige von uns sind empfänglich für Macht. Nur, wann wird das zum Problem?
"Narzissmus ist im Grunde genommen eine Extremvariante vom Streben nach Selbstwert. Das tun wir alle. Wir allen wollen unseren Selbstwert erhöhen. Durch Anerkennung, durch berufliche Erfolge. Nur die Frage ist, ab wann ist das krankhaft? Und jetzt gehe ich mal weg vom öffentlichen Diskurs, zum psychiatrisch-psychotherapeutischen. Dann ist diese Grenze kaum scharf definiert."

Hoher Selbstwert oder Narzissmus?

Die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki behandelt in ihrer Praxis seit vielen Jahrzehnten Menschen mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis. Das Wort "Störung" hält sie für problematisch. Denn: Es gäbe keinen ungestörten Zustand – nur eine größere oder geringere Störbarkeit der Selbstliebe.
„Es gibt Menschen, die haben einen sogenannten positiven Narzissmus, das heißt, ein Selbstwertgefühl, das relativ stabil ist. Diese Menschen können sich selbst wieder in die Balance bringen, die können Lob annehmen, sie können auch Lob geben, sie sind beziehungsfähig und sie haben ihre Stärken und ihre Schwächen“, erklärt sie.
„Dann gibt es Menschen mit einem narzisstischen Defizit. Das sind Menschen, die ein instabiles Selbstwertgefühl haben. Das heißt, die können sich nicht selber stabilisieren. Die brauchen die Bewunderung oder das positive Echo von außen, damit sie sich überhaupt selbstwert fühlen. Sie selber erleben sich wertlos. Deshalb machen sie auch so eine tolle große Fassade, damit alle sagen, oh, wie bist du toll!“
"Das Problem tritt auf", sagt Claas-Hinrich Lammers, "wenn Sie ganz krass gesagt kaltherzig sind und keine Empathie haben, andere Menschen nicht gelten lassen, die eigentlich nur ausnutzen. Dann tritt eigentlich das gravierende Problem von Narzissmus auf."
Wenn Realität und Fiktion verschwimmen, so Lammers, wenn sich die Betroffenen aufplustern und Geschichten erzählen, die sie größer erscheinen lassen:
"Man nennt das Antagonismus. Das heißt, dass man mit anderen Menschen immer in Konkurrenz tritt. Dass man versucht, seinen Selbstwert dadurch zu steigern, dass man andere abwertet. Dass man ständig im Kontakt mit anderen guckt, wo sind deren Schwächen, wo kann ich den bloßstellen, wo kann ich mich irgendwie besser darstellen, wie kann ich dem anderen Fehler nachweisen? Also das, was die menschlichen Beziehungen so unglaublich anstrengend und schwierig macht."

Grandiose und vulnerable Narzissten

Der grandiose Narzisst träumt von grenzenlosem Erfolg, von Macht und Schönheit, von einem Ideal der Liebe. Er hält sich für einzigartig und legt ein hohes Anspruchsdenken an den Tag.
"Wenn wir von Narzissten sprechen, denken wir immer, da kommt jemand zur Tür rein, irgendwie: ‚Ich bin der Boss, ich bin überlegen, ich bin toll‘", sagt Claas-Hinrich Lammers. "Es gibt Studien, die sagen, im Gegensatz zu vielen anderen psychischen Erkrankungen, dass dieser ‚grandiose Typ‘ eher Männer sind."
Vielleicht ein Sozialisierungsphänomen. Psychologinnen und Psychologen kennen neben dem grandiosen aber auch den "vulnerablen Narzissten":
"Wenn Sie die kennenlernen, denken Sie am Anfang, die sind depressiv oder ein bisschen schüchtern, zurückhaltend, angepasst. Wenn Sie die näher kennenlernen, merken Sie auf einmal, die haben eine extrem narzisstische Seite. Beispiel: Patientin kommt zur Therapie ins Krankenhaus mit Mobbing: 'In der Firma haben mich alle gemobbt, Depression, mir geht’s total schlecht.' Alle haben ganz viel Mitleid. Im Einzelgespräch am Anfang auch viele Tränen und 'ich bin so ungerecht behandelt worden'. Irgendwie so nach dem dritten, vierten Gespräch kommen so Sprüche wie: 'das sind ja alles Idioten in der Firma'. Dann auf einmal entwickelt sich so eine Dynamik, wo die Patientin sagt: 'Das sind alles Arschlöcher und mein Chef hat Angst davor, dass ich besser bin als er und ich bin auch besser als er, das weiß er auch. Deswegen ist es ja kein Wunder, dass er mich so behandelt hat'."
Die Studienlage dazu, sagt Claas-Hinrich Lammers, ist schlecht. Beobachtungen zufolge seien es aber häufiger Frauen, die diesen vulnerablen narzisstischen Typus aufweisen.
"Da der aber mit diagnostischen Methoden noch nicht erfasst wird, kommt in Studien immer raus: Männer sind eher narzisstisch."

Weiblicher und männlicher Narzissmus

Bärbel Wardetzki hat mit ihrem Buch "Weiblicher Narzissmus - Der Hunger nach Anerkennung" schon 1991 ein Standardwerk über den "Vulnerablen Narzissmus" geschrieben.
"Vor 30 Jahren hat man, wenn es um Narzissmus ging, nur von den Männern gesprochen und das waren auch hauptsächlich männliche Autoren, die über Narzissmus geschrieben haben. Ich kannte im Grunde nur zwei oder drei weibliche Autorinnen."
Die Psychologin beschäftigt sich damals mit den Persönlichkeitsstrukturen von Frauen mit einer Ess-Brechsucht. Sie leiden unter immensen körperlichen und seelischen Qualen. Verstecken ihre Sehnsucht nach Liebe, Nähe und Geborgenheit hinter perfektem Aussehen. Sie wollen unter allen Umständen den Eindruck aufrechterhalten, erfolgreich zu sein.
"Interessanterweise ist es bei den Frauen so, dass sie oftmals im Beruf wirklich ihre Frau stehen und die sind da klasse und erfolgreich. Aber wenn es um Beziehungen geht, dann werden sie plötzlich völlig anders. Dann werden sie unselbstständig, dann passen sie sich an. Dann lösen sie sich emotional im Partner auf und sind eigentlich gar keine erwachsene Frau mehr. Nur, dahinter steckt eben ganz viel Leid. Man kann sagen, da wo die Frau sich kleiner macht, macht der Mann sich größer. Da, wo die Frau sich anpasst, geht er sozusagen in Distanz. Sie ist diejenige, die die Beziehung aktivieren will und er ist eher derjenige, der die Distanz aktiviert."

Zu viel oder zu wenig elterliche Aufmerksamkeit?

Grandioser und vulnerabler Narzissmus. Wie kommt es dazu? Joshua Miller, Professor für Psychologie, forscht an der University of Georgia zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen:
"Die Öffentlichkeit denkt oft, und viele klinische Psychologen ebenfalls, dass Narzissten wirklich tief im Inneren verletzte und beschädigte Menschen sind. Es sei nur eine falsche Fassade. Ich glaube, dass wir keine wirklich guten Daten haben, um das zu belegen – aber auch keine sehr guten Daten, um es zu widerlegen. Aber wir sollten vorsichtig sein, wenn wir behaupten, wir wüssten, wie das wahre Innenleben eines narzisstischen Menschen aussieht."
Bis heute halten sich zwei Theorien. Beide machen die Erziehung verantwortlich.
Die Illustration zeigt ein Elternpaar, das sein Kind in einer Sänfte trägt. Das Kind hat eine Krone auf dem Kopf.
Zu viel oder zu wenig Aufmerksamkeit? Beides ist als mögliche Ursache für narzisstische Persönlichkeitsbildung in der Diskussion.© imago images / fStopImages / Malte Mueller
Theorie eins: Menschen mit narzisstischen Defiziten werden durch ihre Eltern überhöht, verwöhnt und von jeglicher Frustrationserfahrung beschützt. Ihnen fehlt der Bezug zu einem realistischen Selbstbild.
Theorie zwei: Kinder entwickeln ein übersteigertes Selbstwertgefühl als eine Art Selbstschutz vor Missachtung und Zurückweisung. Nämlich dann, wenn sie für die Liebe ihrer Eltern mit Leistung bezahlen müssen.
"Es gibt keine Beweise dafür, dass die Erziehung die Ursache für Narzissmus ist. Obwohl das eine der großen Annahmen der frühen klinischen Theorien war. Aber die Faktenlage ist ziemlich übersichtlich. Ich denke also, dass vieles davon auch mit dem Temperament zusammenhängt. Dass manche Kinder schon im Mutterleib sehr egozentrisch sind, die Welt als einen Wettbewerb betrachten, immer der Gewinner sein wollen und sich aufregen, wenn sie verlieren."

Bis zu 70 Prozent genetisch bedingt?

Auch Wissenschaftler wie der Hamburger Professor Claas-Hinrich Lammers gehen heute davon aus, dass eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung bis zu 70 Prozent genetisch bedingt ist.
"Wenn man das hört, denken alle: ‚Das kann doch nicht sein, Genetik, das muss doch Entwicklung sein, wie sie behandelt wurden‘. Genetische Studien sind ja zum Beispiel so, dass man eineiige Zwillinge untersucht, die getrennt aufgewachsen sind oder eineiige mit zweieiigen vergleicht und guckt, wer entwickelt was. Da gibt es schon den Hinweis, dass es irgendwo ein genetischer Effekt ist."
Das Problem der Forscherinnen und Forscher: Gerade bei längst erwachsenen Patientinnen und Patienten ist es schwierig, Ereignisse zu rekonstruieren, die Jahrzehnte zurückliegen. Nämlich in der Kindheit.
"Dennoch ist es so bei den meisten Patienten, die kommen – die leiden ja. Und bei denen kriegt man schon Kindheitsgeschichten raus, wo man schon den Eindruck bekommt, die Eltern haben sie vernachlässigt und häufig bestraft und nicht ausreichend beachtet."

Datenlage über Narzissten ist dünn

Allerdings ist es nicht so einfach, überhaupt an Daten und Informationen zu kommen, sagt Claas-Hinrich Lammers. Leute mit narzisstischen Eigenschaften sind nicht selten sehr erfolgreich. Sie leiten Unternehmen, sitzen in der Politik und sehen mutmaßlich kein Problem in ihrer Persönlichkeitsstruktur. Wie sollte man sie zu Forschungszwecken ansprechen?
"Ich würde sogar behaupten, dass die durchschnittliche grandios-narzisstische Person wahrscheinlich nicht in Therapie geht", sagt Joshua Miller. "Versetzen Sie sich in deren Position. Entweder glauben sie, dass alles wirklich hervorragend für sie läuft. Oder, sollte das nicht so sein, neigen sie dazu zu sagen: ‚Es ist nicht meine Schuld. Zur Therapie zu gehen, würde ja bedeuten, dass die Ursache dafür, dass ich immer wieder gefeuert werde oder dass meine Beziehungen nicht halten, bei mir liegt. Es ist mein Chef, der nicht erkennt, wie klug ich bin. Oder meine Frau, die nicht versteht, dass ich es verdiene, auf eine bestimmte Weise behandelt zu werden.'"
Psychologen und Psychologinnen, so Joshua Miller, sollten daher vorsichtig sein, wenn sie aus ihren klinischen Stichproben heraus erklären wollten, was Narzissmus ist – oder was in Narzissten vorgeht. Denn ein wesentlicher Teil der Betroffenen sei in diese Studien vermutlich schlicht nicht einbezogen.
Der Youtuber "IchBinNarzisst" sagt: "Ich persönlich halte nichts von Therapeuten und Psychologen. Weil ich mir denke, die können zwar viel reden, aber das, was in meinem Kopf vor sich geht, das können die ja sowieso nicht reparieren."
Wer aber kommt zu Therapien? Claas-Hinrich Lammers hat viele Patientinnen und Patienten mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, die den Weg in seine Klinik finden.
"In der Regel kommen die mit Krisen. Die kommen nicht zu einem und sagen, ich bin ein Narzisst und ich brauche irgendwie Hilfe, sondern sie kommen, weil sich die Frau wieder getrennt hat oder weil sie beruflich wieder mal gescheitert sind. Aber im Grunde genommen ist der Erstkontakt mit den Patienten immer eine Krisenintervention."

"Unreflektiert und kritikunfähig"

"Ausschlaggebend war auch wirklich diese Krise gewesen. Dass ich komplett alles verloren hatte. Ja, ich hatte meinen Partner verloren, mein Stiefvater lag mit Hirnblutungen im Krankenhaus, mein Bruder hat auf der Straße gesessen. Emotional bin ich dann irgendwann eingekracht. Kracht jeder mal ein, auch ein Narzisst."
Diese Frau nennt sich Lina Narzisse. Sie will anonym bleiben, ist Mitte 30 und kommt aus dem Raum Berlin. Bei ihr wurde der sogenannte Vulnerable Narzissmus diagnostiziert.
„Ich habe sechs Ärzte durch, ich bin aus den Kliniken rausgeflogen, ich bin da kein zweites Mal reingekommen. Jegliche Ärzte haben versagt, sage ich mal, konnten mit mir einfach nicht umgehen, weil ich auch ziemlich unreflektiert war und kritikunfähig. Ich habe mich dahingesetzt und habe selbst einen auf Arzt gemacht und habe nachher den Psychologen quasi therapiert“, sagt sie.
„Irgendwann bin ich noch mal in eine Klinik gekommen, immer wieder reingeschickt vom Krankenhaus, weil ich gesagt habe, ich bin nicht psychisch krank. Was wollt ihr mir erzählen? Dementsprechend bin ich dann nochmals in eine Klinik. Dort wurde dann die Diagnose gestellt. Von einer Oberärztin. Da hat sie gesagt: ‚Narzisstische Persönlichkeitsstörung‘, sagt der Begriff dir was? Ich sage, ich bin nicht rechtsradikal. Ich habe damit nichts zu tun! Ich wusste nicht, was das ist!“
Sie hat ihren Partner manipuliert, sagt Lina. Aber sie sagt auch, dass sie das aus Angst getan hat. Aus Angst ihn zu verlieren. Als die Beziehung in die Brüche geht, habe sie aufgehört zu essen, sich komplett aufgegeben, nur noch Leere gespürt.
"Es zerreißt einen. Ja, es zerreißt einen, Narzissmus ist ein Gefängnis. Darin bist du eingesperrt. Ich habe dafür keine Worte. Aber es verstehen viele halt auch nicht."

Narzissten sind immer die Täter?

Die zweifache Mutter stört sich daran, dass ihr Leiden häufig als Täterschaft angesehen wird.
"Der Narzisst ist halt immer der Täter, der Partner immer das Opfer. Dementsprechend stehst du als Narzisst dann immer als Missbraucher da. Das finde ich persönlich extrem diskriminierend, stigmatisierend. Natürlich gibt es Missbrauch, das streite ich gar nicht ab, es gibt körperlichen, emotionalen Missbrauch. Aber warum muss man einem Missbrauch noch zusätzlich einen Begriff geben? Warum muss man davor noch ein ‚narzisstisch‘ setzen? Spricht man auch vom Borderline-Missbrauch oder vom Depressionsmissbrauch oder von Panikgestörten-Missbrauch? Jede Beziehung mit einem psychiatrisch Erkrankten ist doch demnach dann toxisch oder nicht?"
Lina Narzisses Kritik richtet sich vor allem an eine Reihe lauter, vermeintlicher Aufklärerinnen und Aufklärer im Netz. Sie geben oft einfache Antworten für vermeintliche Opfer von Menschen mit mutmaßlicher narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Sie unterteilen in Gut und Böse. Geben Menschen, die in Krisen stecken, Bestätigung: der Partner, die Chefin, die Leute vom Jugendamt – vermutlich Narzissten.
Die Online-Coaches nehmen viel Geld für ihre persönlichen Beratungen. Zum Beispiel: über 200 Euro für ein kurzfristig verabredetes Telefonat, knapp 100 Euro für eine E-Mail mit Antworten auf dringende Fragen. Wo aber findet sich wirklich seriöse und niedrigschwellige Hilfe?
"Da ist Deutschland wirklich eine Wüste." Arne Salisch und Daniel Brodersen haben gemeinsam mit einer Freundin die Narzissmus-Selbsthilfe-Deutschland gegründet. Sie sind keine ausgebildeten Psychiater oder Psychologen. Sie stellen keine Diagnosen.
"Arne hat in Kiel, ich habe in Hamburg und Sandra hat in Berlin jeweils eine Selbsthilfegruppe gegründet. Wir haben festgestellt, dass es in Deutschland gar nichts gab. Es gab Stammtische und es gab online ganz viele Foren, also Facebook-Gruppen und bei Youtube. Aber es gab keine oder wenig Selbsthilfegruppen."
Kaleidoskopartig vervielfältigte Porträtaufnahme eines jungen schwarzen Mannes
Ist Ichbezogenheit ist zur gesellschaftlichen Norm geworden?© imago / Westend 61
Im Schnitt würden pro Woche 30 Menschen zum ersten Mal Kontakt zur Narzissmus-Selbsthilfe suchen. Allen zu helfen sei aber schwierig, sagt Arne Salisch:
"Ein Narzisst, so wie er verstanden wird, kann alles Mögliche sein. Der hat paranoide, dependente, hat Borderline-Anteile, hat dissoziale Anteile. Dieser Begriff wird umgangssprachlich so weitläufig verwendet, dass jeder ein Narzisst sein kann. Der ist total unscharf!"
Es kommen Menschen, die bei sich selbst narzisstische Eigenschaften beobachten. Vor allem aber diejenigen, die unter dem Verhalten von Menschen mit übersteigertem Selbstwertgefühl leiden. In den Gesprächen versuchen Daniel Brodersen und Arne Salisch den Blick ihrer Klienten auf sich selbst zu lenken.
"Warum bist du hier? Warum hast du so gehandelt und was in dir hat dazu geführt, dass du eine Beziehung aufrechterhältst, die ungesund für dich ist? Egal, wie der andere ist. Denn nur so kann man sich ja auch lösen aus dieser Beziehung. Nicht, indem ich mich auf den anderen, den bösen Narzissten fixiere, sondern indem ich in mich hineingucke und die Energie auf mich lenke, die Aufmerksamkeit."

Mit Narzissten leben lernen

"Wenn ich mir bewusst mache", sagt Daniel Brodersen, "dass das nichts mit mir zu tun hat, weil er reagiert, wie er reagiert, ich grenze mich also innerlich davon ab, ich mache mir aber auch bewusst, der andere hat wahrscheinlich einen Grund, der fühlt sich jetzt angegriffen, ich habe ihn nicht angegriffen, aber er fühlt sich angegriffen, ist es auch sein gutes Recht, sich angegriffen zu fühlen. Ich kann dann trainieren, es nicht auf mich zu beziehen. Ihn dann auch so sein lassen zu können."
Arne Salisch ergänzt:
"Ich finde, es kommt auch immer auf die Schwere der Verletzungen, der Grenzüberschreitungen an. Wenn wir so von normalem Narzissmus in der Partnerschaft reden, da ist es einfacher, als wenn ganz klar Grenzen überschritten werden. Manche agieren ja schon richtig ins Kriminelle, dass die Leute bewusst zerrüttet werden. Dass körperliche Gewalt stattfindet. Wobei das ja dann schon wieder dissozial ist und nicht unbedingt narzisstisch."
Ab einem gewissen Punkt, sagt Psychiater Claas-Hinrich Lammers, kann eine Trennung unausweichlich werden.
„Man kann sich wirklich verrennen in dieses: ‚Der muss sich doch ändern‘. Wenn Sie da mehrere Anläufe unternommen haben, Sie haben gemerkt, Ihr Mann reagiert darauf nicht, dann muss man ganz klar sagen, der wird sich auch nicht verändern. Punkt, aus, Ende“, sagt er.
„Ich glaube, da sollte man als Therapeut auch der betreffenden Frau die Hoffnung nehmen und sagen: ‚Nein, Sie haben es jetzt ein paar Jahre versucht, Sie haben vielleicht auch eine Paartherapie versucht, hat nie funktioniert, Sie haben ihm das immer wieder gesagt. Er macht weiter, er betrügt Sie, er hintergeht Sie, was weiß ich‘. Da muss man therapeutisch auch der Partnerin die Hoffnung nehmen und sagen: ‚Entweder schließen Sie damit ihren Frieden, wie auch immer Sie das machen wollen – das kann auch unmöglich sein – oder Sie trennen sich‘.“
Manchmal haben Therapien aber auch Erfolg. Claas-Hinrich Lammers arbeitet in seiner Hamburger Klinik bis zu drei Jahre lang mit Patienten.
"Ich meine, sie machen aus denen keinen anderen Menschen. Aber da ist auch ein ganz wichtiger Umstand der Therapie bei diesen Patienten, dass sie nicht sagen: ‚Ich mache aus dem jetzt einen normalen angepassten Durchschnittsmenschen‘. Die haben ja durchaus auch alle ihre Fähigkeiten und Kompetenzen. Sondern, dass sie mit dem ganz konkret an den Dingen arbeiten, welche bei ihm und seiner Umgebung Leiden auslösen."

Soziale Medien als Verstärker

Gibt es immer mehr Narzissmus? Ist Narzissmus wirklich das Krankheitsbild unserer Zeit? Gibt es immer mehr Menschen, die diese Persönlichkeitsstörung haben? In den letzten Jahren wurden Hunderte wissenschaftliche Artikel zum Thema publiziert. Das Medieninteresse ist immer wieder hoch.
"Ich scherze immer: Wer interessiert sich nicht für Narzissmus?", sagt der Psychologe Joshua Miller.
"Die Forschung ist zyklisch und die Dinge werden für eine gewisse Zeit ziemlich hochgekocht. Wirklich schwer zu sagen, woran das liegt. Manchmal sind es nur ein oder zwei neue Menschen in der Wissenschaft. Sie treiben dann die Forschung in einem Bereich voran. Ich vermute dennoch, dass eine Beobachtung richtig ist: der Narzissmus in den sozialen Medien ist für uns heute sehr wichtig. Es ist ein perfektes Medium für laute, eindringliche, selbstsichere Stimmen, die sich mehr denn je durchsetzen."
Dass soziale Medien jedem eine Plattform bieten, um sich in Szene zu setzen, egal womit und egal, mit welchem Ziel – das hält auch die Münchner Psychologin Bärbel Wardetzki für eine Ursache, weshalb der Narzissmus-Begriff so überlagert ist:
"Die sozialen Medien machen nicht narzisstisch, aber sie wecken natürlich die narzisstischen Anteile in uns. Früher konnte ja kaum jemand sich weltweit darstellen und jetzt kann das jeder. Das muss man sich mal vorstellen. Das ist ja eine grandiose Überhöhung für den Menschen. Und dann haben wir einen Begriff, das ist auch wichtig für die Menschen. Wenn Sie einen Begriff haben, dann sieht man die Dinge auch mehr."
Und der Psychiater Claas-Hinrich Lammers sagt:
"Diese Vorstellung, die Gesellschaft sei insgesamt narzisstischer geworden, hat sich nicht als solches bestätigt, wenn man es wissenschaftlich sieht – wir reden jetzt wirklich von einem Test mit offiziellen Kriterien, den man anwenden kann."

WHO streicht "Narzissmus" aus dem Krankheitskatalog

Vielleicht ist die Wahrnehmung, es gebe immer mehr Narzissten, letztlich auch eine Beschwerde darüber, dass egoistisches, rücksichtsloses Verhalten häufig eben erfolgreich ist. Dass die Berufe, Leistungen oder gesellschaftlichen Positionen als erstrebenswert gelten, die eher erreicht, wer meint, einen Anspruch darauf zu haben und diesen durchsetzt.
Vielleicht beschreibt "Narzissmus" auch mehr ein Klima, das dem individuellen Vorankommen huldigt, als eine Persönlichkeitsstruktur. Der neue, 2022 in Kraft tretende Krankheitsklassifikationskatalog der Weltgesundheitsorganisation jedenfalls wird den Begriff "Narzissmus" nicht mehr enthalten.
"Das heißt", so Claas-Hinrich Lammers, "die narzisstische Persönlichkeitsstörung wird es offiziell in einem Jahr nicht mehr geben. Die Sensation ist, man kann nur noch von Persönlichkeitsstörung sprechen und dann kann man noch ein bisschen genauer beschreiben, was für Persönlichkeitseigenschaften die haben. Das heißt, dass man sich nicht mehr hinter diesem Begriff verstecken kann. Wir werden jetzt als Psychiater, Psychotherapeuten dazu gezwungen einfach genauer zu beschreiben."
Narzissmus – der Begriff wird in der Welt der Wissenschaft vielleicht verblassen. Zu unserem Alltag wird er vermutlich noch lange gehören.

Narzissmus – Das zwanghafte Kreisen ums Ich
Autor und Regie: Johannes Nichelmann
Es sprechen: Suzanne Vogdt und Sven Philipp
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Lydia Heller

Eine Wiederholung vom 26. August 2021.

Mehr zum Thema