Naika Foroutan, Jana Hensel: „Die Gesellschaft der Anderen“

Gemeinsam gegen Vorurteile

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Buchcover: "Die Gesellschaft der Anderen" von Naika Foroutan und Jana Hensel
Die Mehrheitsgesellschaft sei maßgeblich verantwortlich für die bestehenden Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen, so die Autorinnen. © Aufbau/Deutschlandradio
Von Alexander Moritz · 21.11.2020
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Ostdeutsche werden ähnlich diskriminiert wie Migranten – mit dieser These hat die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan für Diskussionen gesorgt. Mit der Journalistin Jana Hensel wirbt sie nun für eine Allianz der „Gesellschaft der Anderen“.
Als die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan die These aufstellte, dass Ostdeutsche und Migranten eine ganz ähnliche Diskriminierung erleben, trat sie damit eine kontroverse Debatte los. Foroutan argumentierte, dass die Mechanismen der Diskriminierung sich ähneln, mit denen Ostdeutsche und Migranten von einflussreichen gesellschaftlichen Positionen ausgeschlossen werden.
Dies will sie keinesfalls als Gleichsetzung verstanden wissen, sondern lediglich als Analogie: Beide Gruppen würden gleichermaßen vom westdeutsch geprägten Diskurs als von der Norm abweichende "Andere" dargestellt. Das war 2019, und die Schriftstellerin und Journalistin Jana Hensel gehörte zu ihren vehementesten Verteidigerinnen. Jetzt haben sich beide für einen Gesprächsband zusammengetan und erkunden darin die "Gesellschaft der Anderen".

Auch ein Westdeutscher kann rassistisch sein

Die gemeinsame Erkundung der "Gesellschaft der Anderen" beginnen die Autorinnen anhand zweier Ereignisse, die zunächst nicht viel zu verbinden scheint: die rassistischen Morde in Hanau und die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Stimmen der AfD. Beide Ereignisse haben jedoch aus Sicht der Autorinnen den Mythos widerlegt, dass Rechtsextremismus und Rassismus nur gesellschaftliche Randphänomene seien.
Bislang sei Rechtsextremismus häufig als ostdeutsches Problem dargestellt und mit einer kulturellen oder historischen Andersartigkeit, der "Devianz einer Gruppe" (Foroutan), erklärt worden. Hanau habe gezeigt, dass auch ein westdeutscher Durchschnittsbürger aus rassistischem Hass morden kann.


Für Hensel war die Wahl Kemmerichs eine ähnliche Zäsur. Danach musste die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zurücktreten, weil sie den Thüringer Landesverband nicht davon abhalten konnte, gemeinsam mit der AfD abzustimmen. Ein Zeichen dafür, dass die Auseinandersetzung der demokratischen Parteien mit der AfD mitnichten nur ein regionales Problem ostdeutscher Länder sei, sondern auch auf bundespolitischer Ebene Folgen hat.
Somit sei in beiden Fällen ein Privileg der Mehrheitsgesellschaft nicht zur Geltung gekommen: Missstände und Dysfunktionalität auf "Andere" abwälzen zu können. Die Autorinnen beklagen großes Unwissen in der Mehrheitsgesellschaft über die "Anderen" – über Muslime ebenso wie über Ostdeutsche. "Das Unverständnis des Westens für die Zustände im Osten ist eine westdeutsche Kernkompetenz", formuliert Hensel. Und Foroutan schreibt: "Der Diskurs über den Islam und die Muslime in Deutschland ist teilweise so rudimentär, dass ich in Diskussionen häufig das Gefühl habe, eine Entwicklungshelferin zu sein."

Kritik an einer westdeutschen "Dominanzkultur"

Dabei sei die Mehrheitsgesellschaft maßgeblich verantwortlich für die bestehenden Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen und dadurch auch für die daraus entstehenden Abwehrreaktionen. "Es bringt uns nicht weiter, dauernd auf Minderheiten zu schauen, wenn wir Rassismus, Extremismus und Radikalisierung erklären wollen", schreibt Foroutan. Die Mehrheitsgesellschaft müsse sich daher mit ihren Privilegien auseinandersetzen und Ungleichheiten beseitigen – und zum Beispiel durch Quoten unterrepräsentierten gesellschaftliche Gruppen den Zugang zu Institutionen öffnen.
Der Begriff der "Mehrheitsgesellschaft" sei jedoch unscharf, da einerseits Ostdeutsche und Muslime je nach Perspektive auch immer Teil der Mehrheitsgesellschaft sein könnten, und weil andererseits Ostdeutsche ebenso wie Menschen mit Migrationsgeschichte jeweils etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung stellten. Die Autorinnen sprechen daher auch von einer "Dominanzkultur" und "Vorurteilskultur". Denn die Diskurshoheit liege weiterhin vor allem bei weißen, westdeutschen Männern, während große Teile der "Anderen" nicht angemessen an gesellschaftlichen Debatten beteiligt seien.

Naika Foroutan und Jana Hensel sind sich leider meist einig

Neben diesen bekannten Befunden macht Foroutan darauf aufmerksam, dass hinter den Bruchlinien auch ein Generationenkonflikt steckt: Während die ostdeutschen Länder überdurchschnittlich alt und wenig von Migration geprägt sind, sind für die jüngeren Generationen in Westdeutschland Migrationsbiografien normaler Teil des Alltags.
Der persönliche, anekdotenhafte Stil der Schriftstellerin und Autorin Jana Hensel ergänzt die analytische Haltung der Sozialforscherin Naika Foroutan, die nebenbei einen Grundkurs zu Identitätsforschung und postkolonialer Theorie einfließen lässt. Dabei entspinnt sich ein immer wieder kluges Gespräch zwischen zwei Frauen, die sich grundsätzlich einig sind. Wer die These teilt, dass migrantisch gelesene Menschen und Ostdeutsche auf ähnliche Weise von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden, wird sich durchweg bestätigt finden.
Allerdings wäre ein Streitgespräch mit Kritik an diesem Ansatz weitaus fruchtbarer gewesen. Denn Kritik an Foroutans These gibt es zuhauf: Ob die Interpretation ihrer Befragungsergebnisse überhaupt so weitreichende Aussagen zulässt? Ob durch die Deutung von Ostdeutschen als Migranten diese zu Opfern von Diskriminierung macht und so rechtsextreme Tendenzen quasi legitimiert? Ob es die eine ostdeutsche Identität überhaupt gibt? All das wird im Buch zwar aufgegriffen, aber nicht durchdekliniert. Und so fehlt ausgerechnet in der "Gesellschaft der Anderen" eine gewisse Pluralität. Das ist schade.

Naika Foroutan, Jana Hensel: "Die Gesellschaft der Anderen"
Aufbau, 2020
356 Seiten, 22,00 Euro

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