Nachwuchsmangel in der Klassik

Noch trübere Aussichten für Musiktalente

05:39 Minuten
Die Elbphilharmonie in Hamburg im Nebel.
So unklar wie die Sicht auf die Elbphilharmonie in Hamburg auf diesem Bild ist die Zukunft vieler junger Musikschaffender. © IMAGO / Chris Emil Janßen
Von Helene Nikita Schreiner · 02.02.2021
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Die klassische Musik war schon immer ein unsicherer Beruf. Die geschlossenen Konzertsäle wecken nun Sorgen vor einer Verschärfung des Nachwuchsmangels. Die Deutsche Orchestervereinigung fordert Hilfe von der Politik.
"Herzlich willkommen. Sie sehen auf dem Bild die Elbphilharmonie im dichten Nebel – das ist Sinnbild für die unklaren Perspektiven die wir gerade auch im Musikbetrieb haben", sagt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, bei deren Jahresmedienkonferenz - die erstmals in der Geschichte des Verbands online stattfindet. Wie überall derzeit im Kulturbetrieb ist Corona das zentrale Thema. Die Pandemie, so Mertens, habe die Branche 2020 wie einen großen Einschlag erlebt.
"Vor einem Jahr, da brummte der Klassik-Betrieb. Wir hatten nur positive Meldungen. Elbphilharmonie immer ausverkauft, Klassik-Festivals immer zu 90 Prozent ausverkauft, wir hatten einen wahrhaften Boom an Open-Air-Veranstaltungen", so Mertens.

"Absturz für freie Musikschaffende"

Dieses laute Brummen im Kulturbetrieb ist inzwischen zu einem leisen Summen geworden. Ähnlich wie das öffentliche Leben konnte auch Kultur 2020 nur in Wellen stattfinden. Der Klassikbetrieb musste kreativ werden, sich neue Auftrittsformen überlegen. Und stieß dabei – wie wir alle – an seine Grenzen.
Der Arbeitsalltag von Berufsmusikerinnen und -musikern wurde mit dem ersten Lockdown vor knapp einem Jahr auf den Kopf gestellt. Besonders eine Gruppe sieht Mertens in massiver Bedrängnis: Das sei "ein Absturz, der größtmögliche Unfall" für freischaffende Musikerinnen und Musiker gewesen. Ein Ende sei noch nicht in Sicht. "Wir haben die Erkenntnis daraus gewonnen, dass die Solo-Selbstständigen und Freien durch alle gängigen Unterstützungsraster gefallen sind. Blieb letztlich nur Hartz IV oder Grundsicherung, also ALG II."
Das gilt allerdings nicht für alle. Birgit Schmieder hatte Glück. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren als freie Oboistin, sie spielt in mehreren Ensembles, hat aber auch einen Lehrauftrag an der Berliner Universität der Künste und gibt Musikunterricht. Beides ging online weiter. Hartz IV musste sie deshalb nicht beantragen. Auf die Frage, was ihr gerade am meisten fehlt, sagt sie: "Die Konzerte. Also ich hab seit einem Jahr überhaupt nicht mehr auf der Bühne gestanden. Nicht unbedingt finanziell, da bin ich gut aufgestellt. Aber rein von der Moral, von der Motivation – da fehlt es mir sehr."

Ernsthaftes Nachwuchsproblem

Und darin könnte ein Problem für die Zukunft liegen. Eine Musikerkarriere, ohnehin schon mit vielen Unsicherheiten behaftet, erscheine vielen Studierenden jetzt noch perspektivloser.
Wenn wir noch lange im Lockdown bleiben müssen, sagt Schmieder, dann werde es bald ein ernsthaftes Nachwuchsproblem im klassischen Musikbetrieb geben: "Wie wird es weitergehen in der freien Szene? Selbst wenn es mal wieder zu Konzerten kommen wird. Gibt es dann noch Musiker, die dann auch spielen wollen? Ich merke diese Motivationsdefizite bei Studierenden, die eben auch nicht mehr ganz so sehen: Warum mach' ich das? Gibt es für mich eine Perspektive? Ich merke es aber selbst bei Musikschülern. Die sehr leiden, dass es kein Orchester mehr gibt, sie sich nicht treffen können, Vorspiele nur online stattfinden."
Auch deswegen sei es sehr wichtig, dass Musikerinnen und Musiker bald wieder auf die Bühne zurückkehren können. "Ich sehe nur dann Hoffnung, wenn Chöre wieder singen können; wenn Orchester wieder spielen können – auch in nicht reduzierter Besetzung!", betont die Oboistin.

Gegen Kürzungen öffentlicher Kulturausgaben

Auch festangestellte Berufsmusikerinnen und -musiker sind vom Lockdown betroffen. Finanziell sind sie durch Kurzarbeit besser abgesichert als ihre freien Kolleginnen und Kollegen, dazu liefert Gerald Mertens von der Deutschen Orchestervereinigung frische Zahlen: Von den 129 Berufsorchestern in Deutschland, seien gegenwärtig 109 in Kurzarbeit. "Wenn man das in Prozent ausdrücken will, dann sind 85 Prozent aller Berufsorchester in Kurzarbeit. Der wichtigste Aspekt dabei: Diese Kurzarbeit sichert Arbeitsplätze in den Orchestern. Und wir haben bisher von keinem einzigen Orchester in Deutschland Stellenabbau oder Jobkürzungen zu beklagen."
Also eigentlich eine gute Nachricht. Es wäre allerdings fatal, die Pandemie als Musikerin, Musiker oder Orchester irgendwie zu überleben, um dann anschließend unter gravierenden Kürzungen öffentlicher Kulturausgaben leiden zu müssen, mahnt Mertens.

Kultur anhand des Inzidenzwertes

Von der Politik fordert er daher ein auf mehrere Jahre angelegtes Bundesprogramm zur Unterstützung kommunaler Kulturhaushalte. Außerdem brauche es klare Öffnungsperspektiven für Konzertsäle, Bühnen und Museen, die an konkrete Inzidenzwerte gekoppelt sind: "Wenn man den Inzidenzwert nimmt, 50, als den einschlägigen - und das haben bisher die Virologen und die Politik getan -, dann muss es eben heißen, wenn dieser Inzidenzwert im Landkreis X oder der Stadt Y unterschritten wird, dann müssen Theaterveranstaltungen und Konzertveranstaltungen mit einer Platzkapazität von bis zu 50 Prozent wieder möglich sein.
Natürlich unter Berücksichtigung der entsprechenden Belüftungs- und Abstandsregeln und auch mit Mund-Nasenschutz. Denn: Kultur, das ist mehr als nur Freizeit, besonders in Zeiten der Pandemie."
Das findet auch die Oboistin Birgit Schmieder, allerdings ist sie sich nicht sicher, ob das alle so sehen: "Ich weiß nicht inwieweit viele Menschen merken, dass Musik für sie etwas ganz Lebensnotwendiges ist."
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