Nachtmahl im Pesthaus

Von Ulrich Baron · 17.05.2012
Mitten in der blutigsten Phase des Dreißigjährigen Krieges reiste 1636 der recht ehrenwerte Thomas Lord Howard, Earl of Arundel and Surrey, Primer Earl und Earl Marshall of England als Sonderbotschafter für den deutschen Kaiser Ferdinand II. über Rhein, Mosel und Donau bis nach Prag.
Als er Ende desselben Jahres nach London zurückkehrte, war es ihm nicht gelungen, seine heikle diplomatische Mission zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Dabei war es um nichts Geringeres gegangen als um die Restitution, die Wiedereinsetzung der Familie des 1632 verstorbenen "Winterkönigs" Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz in ihre angestammten Rechte. Da aber die Friedensmission Lord Howards, der seine Reise auch zur Vermehrung seiner Gemälde- und Büchersammlungen nutzte, fruchtlos blieb, darf man als deren eigentlichen Ertrag vor allem jenen Bericht verstehen, den sein damals gerade achtzehnjähriger Sekretär William Crowne im Folgejahr veröffentlicht hat. Dessen Verlagsangabe könnte aus einem Roman von Charles Dickens stammen:

"London, gedruckt für Henry Seile, zu kaufen in der Fleetstreet, im Haus zum Tigerkopf zwischen Brücke und Kanal. 1637"

Auf seiner Reise gewinnt Crowne Einblicke in die hohe Politik des Kontinents, trifft Kurfürsten und Bischöfe, König und Kaiser und erlebt am Rande des Reichstags zu Regensburg, welchen Wert der Tastsinn bei einer diplomatischen Mission haben kann:

"Am Abend hatte seine Exzellenz eine Audienz bei dem Kaiser und der Kaiserin, aber als wir durch die Gemächer zu seiner Majestät gingen, waren dort weder Licht noch Männer, um uns den Weg zu zeigen. So gingen wir durch die Dunkelheit, bis wir über eine Tür stolperten, welche die Tür zur Vorkammer war."

Solche komischen Episoden aber sind die Ausnahme. Crownes Reisejournal beschreibt Länder, die der Krieg, die Pest und Hunger in ein Totenreich verwandelt haben. Dörfer, Städte und Schlösser sind geschleift und geplündert worden. Überlebende Bürger flüchten sich vor den Gästen aus England hinter ihre Stadttore.

Selbst die fast hundertköpfige bewaffnete Delegation muss sich vor Räubern und Wegelagerern hüten. Und nicht nur davor. Ihre Verpflegung müssen die Reisenden selbst mitführen. Einer von ihnen schreibt an seinen Vater, dass zwischen Köln und Frankfurt kaum Menschen die Pest überlebt hätten. Erst nachdem sie sich des Nachts in einem entvölkerten Dorf ihr Essen auf der Glut eines niedergebrannten Gebäudes geröstet haben, erfahren sie den Grund für den Brand: Sie haben ihr Nachtmahl auf den Flammen eines Pesthauses gegrillt. Und die Bilder, darunter zwei Werke von Dürer, die später der Rat der Stadt Nürnberg dem kunstsinnigen Lord schenkt, waren wohl auch der Versuch, ein abscheuliches Verbrechen vergessen zu machen, bei dem unweit der Stadt drei Mitglieder der Delegation von Wegelagerern ermordet worden waren:

"Sie müssen der Gruppe, als sie gerade nach Regensburg zurückkehren wollte, nicht einmal vier englische Meilen von Nürnberg entfernt aufgelauert haben, um sie auf barbarische Art und Weise zu töten und an verschiedenen Bäumen im Wald aufzuhängen: Der Kopf des einen war durchschossen, der des Trompeters abgeschlagen und der des Postillions gespalten und abgerissen."

Davon ist auf den Stadtansichten, die der Maler Wenzel Hollar auf dieser Reise geschaffen hat, ebensowenig zu erkennen wie von Pest- und Hungerleichen, von gehenkten Lutheranern und gevierteilten Mördern. Auch Crowne teilt das Grauen, dessen er allenthalben ansichtig wurde, gewöhnlich mit großer Zurückhaltung mit. Doch in Prag, in der legendären Wunderkammer des Kaisers Rudolf, gerät er ins Schwärmen angesichts all der Dinge, die ihn hungernde Kriegs- und Pestwaisen und Sterbende mit Gras im Mund für eine Zeit vergessen lassen.

Da ist der gewaltige Codex Gigas, auch "Teufelsbibel" genannt, den ein Mönch einst mit Hilfe des Leibhaftigen geschrieben haben soll. Da ist eine Uhr, die mit menschlichen Stimmen singt, deren Ursprung man nicht erkennen kann. Das ist eine andere Uhr, wie eine Weltkugel geformt:

"Ihre Frontseite war mit Gold ausgeschlagen. Dieses Gold war grün eingefärbt, um den Eindruck eines Feldes zu erwecken, wobei ein Hirsch hin- und herlief, verfolgt von Jagdhunden mit hängenden Zungen."

Mitten in einem der blutigsten Kapitel der europäischen Geschichte erblickt hier ein Mann eine Welt, in der die Hunde der Jagd und des Krieges nie zum Zubeißen kommen. So ist William Crownes Reisebericht dann nicht nur als Kriegs-, sondern auch als Kulturgeschichte eine wahre Fundgrube. Im Rahmen eines Schulprojektes am Gymnasium an der Stadtmauer in Bad Kreuznach entstanden, ist dessen deutsche Ausgabe zudem ein nachahmenswertes Beispiel für einen Brückenschlag zwischen gymnasialem, akademischem und verlegerischem Arbeiten.

William Crowne: Blutiger Sommer. Eine Deutschlandreise im Dreißigjährigen Krieg
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Alexander Ritter und Rüdiger Keil
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011
126 Seiten, 24,90 Euro