Nach der großen Abwanderung

Von Robert B. Fishman · 05.08.2011
In der moldawischen Hauptstadt Chisinau standen einmal mehr als 70 Synagogen. Die wenigen Juden, die die Schoah überlebten, wagten einen bescheidenen Neuanfang. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es eine Auswanderungswelle: Das jüdische Leben geht trotzdem weiter.
Segenssprüche für Kartoffeln und Bananen. Vor allem die alten Leute greifen begierig zu, wenn es etwas zu essen gibt. Moldawien ist ein armes Land. Wer überhaupt Arbeit hat, muss mit niedrigen Gehältern auskommen, im Durchschnitt keine 200 Euro im Monat. Die Renten sind noch niedriger. Zum Leben zu wenig.

Auf Plastikstühlen sitzen die Feiernden in einem großen Halbkreis im geschlossenen Innenhof des Gemeindezentrums. Es ist modern und frisch weiß gestrichen, eine goldene Plakette an der Wand dankt den Spendern aus Nordamerika, mit deren Geld das Gebäude hergerichtet wurde.

Avi arbeitet für das israelische Außenministerium. Er hilft beim Aufbau der jüdischen Gemeinden in Moldawien:

"Moldawien ist ein angenehmes Land. Man lässt Dich hier in Ruhe leben, solange du keinen anderen störst."

Ein Vorfall im Winter hat die wenigen Juden in Chisinau dennoch verunsichert. Zu Chanukka hatten sie im Stadtpark eine Chanukijáh - den neunarmigen Leuchter - im Stadtpark aufgestellt. Ein Kirchenmann sei vorbeigekommen, habe die Juden beschimpft und den Leuchter umgeworfen. Avi mahnt zur Besonnenheit:

"Unser Leuchter stand damals an einem Sonntag unbeaufsichtigt im Stadtpark. Dann kam einer von der Kirche vorbei und schimpfte, sonst ist nichts passiert. So etwas kann in Israel oder sonst wo auf der Welt auch passieren. Das ist natürlich nicht gut, aber man muss es ins Verhältnis setzen. Das Entscheidende ist, dass man den Leuten die Hintergründe erklärt und ihnen hilft, uns zu verstehen.

Wenn zum Beispiel an den beiden jüdischen Schulen hier 70 Prozent der Kinder Nichtjuden sind, heißt das, dass diese Kinder und ihre Eltern schon mal wissen, worum es im Judentum geht und was Juden sind. Dann sehen Sie, dass wir die gleichen Augen haben wie andere Menschen, dieselben Körper, dasselbe Blut wie sie und eben nur an etwas anderes glauben."

Die Synagoge der Lubwatischer liegt versteckt in einer Gasse im Gewirr des großen Marktes von Chisinau. In einem Nebenraum sitzt Zalman Abelski an seinem Tisch. Das kleine Zimmer dient dem Mann mit dem weißen Rauschebart als Wohn-, Schlaf- und Arbeitsraum. An der Wand hängen die Gebetsschals, im wandfüllenden Regal hinter ihm stehen viele, viele Bücher. Abelski, seit 22 Jahren der Rabbi für die moldawischen Juden, spricht russisch und ein bisschen jiddisch. "Nur noch Alte, Kranke und Invaliden", fasst er die Lage zusammen.

Die meisten Jungen sind ausgewandert: Nach Israel, Nordamerika und Westeuropa. Vor fünf Jahren hat das Nachrichtenmagazin "Spiegel" berichtet, dass nichtjüdische Moldawier die Identität längst verstorbener Juden angenommen haben und dann als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gelangt seien. Not macht erfinderisch.

Einst standen in Chisinau mehr als 70 Synagogen. Heute sind es noch zwei. Von den 65.000 Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Chisinau wohnten, haben nur wenige die Schoah überlebt.

Der Neuanfang nach dem Krieg war bescheiden. Die Sowjetmacht ließ alle Gotteshäuser schließen. Dennoch durfte die jüdische Gemeinde hier zu Sowjetzeiten weitermachen. Faktisch jedoch war im sowjetischen Staatsatheismus jede Religion unerwünscht. Wer sich zum Glauben bekannt hat, hat nicht studieren dürfen und viele Nachteile in Kauf nehmen müssen. Nach dem Ende der Sowjetunion hat die große Auswanderung begonnen. Avi, der Israeli, schätzt, dass es in ganz Moldawien noch etwa 1000 echte Juden gibt.

Das jüdische Leben geht dennoch weiter.
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