Kaum Hoffnung für die Kinder von Mossul
Die Kinder von Mossul haben nicht nur Massaker und Krieg erlebt. Ihnen fehlen auch mehrere Jahre Schulbildung. Unter der Terrormiliz IS lernten sie höchstens, mit Patronenhülsen zu rechnen - oder wie man Menschen enthauptet. Was wird nun aus ihnen?
"Bei einem meiner Nachbarn klopfte es an der Tür. Er und seine Familie glaubten, die irakische Armee sei zu ihnen gekommen. Aber es waren welche vom IS. Sie haben die Eltern vor den Augen ihrer Kinder ermordet."
Tahar, Mitte 30, stammt aus dem vor kurzem erst befreiten Westteil Mossuls. Er trägt ein traditionelles langes Dischdascha-Gewand, das viel zu weit für ihn geworden ist. Ein Bus hat ihn und andere Flüchtlinge gerade zu einer Sammelstelle gebracht.
Jetzt wartet er mit seiner Familie darauf, dass ihnen ein Helfer sagt, wo sie die Nacht verbringen sollen. Die wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten, stehen um sie herum, in Einkaufstaschen gepackt, und in Wolldecken verschnürt. Doch Tahar scheint sich noch nicht zurechtzufinden. Er kann bis heute nicht vergessen, was sich in seinem Viertel in den Tagen vor der Flucht bei Nachbarn und Bekannten abspielte.
"Die IS-Leute sind keine Menschen. Wir hatten nicht mal Essen, nichts als rohen Teig. Viele Kinder sind deshalb regelrecht ausgetrocknet. Fast alle meine Kinder sind krank."
Jamila ist ebenfalls gerade dem IS entkommen und zeigt auf ihre zwei Söhne, die hinter ihr auf das Gepäck aufpassen.
"Die beiden sind schulpflichtig, aber sie wurden schon seit Jahren nicht mehr unterrichtet."
Jamilas Nachbarin Rudian ergänzt:
"Im ersten Jahr, nachdem der IS Mossul erobert hatte, lief es mit der Schule normal weiter, aber dann war sie plötzlich für Mädchen verboten. Und der IS hat sein eigenes System eingeführt und die Kinder an Waffen ausgebildet."
Das Leid der Kinder ist noch lange nicht beendet
Kind zu sein in Mossul, was das bedeutet, davon gibt schon die Fahrt durch den Ostteil der Stadt einen Eindruck – jene Viertel, die bereits vor Wochen zurückerobert worden sind.
Fuad, der irakisch-kurdische Helfer und Begleiter, deutet auf die Schutthaufen, die Berge von zerbröseltem Beton, aus denen Eisenträger und verbogene Drahtgestänge ragen.
"Überall Zerstörungen, an beiden Seiten der Straßen, Häuser, Gebäude. Infolge Schlacht, aber auch durch Bombardierungen von Alliierten gegen IS."
Schlimmer noch sind die unsichtbaren Zerstörungen bei all jenen, die Massaker mitansehen mussten, die monatelang dem Bombenkrieg ausgesetzt waren, seit Jahren keine Schulen besuchen konnten – oder nur die Schulen des IS. Was wird aus ihnen?
An einer Ecke stoßen wir auf eine Ausgabestelle für Medikamente und steigen aus dem Auto. Viele Kinder stehen hier für ihre Eltern an, die meisten sind zwischen zehn und fünfzehn Jahren alt.
"Nein, ich kann nicht lesen und auch nicht schreiben. Nachdem der IS die Schule übernommen hatte, bin ich nicht mehr hingegangen."
... sagt ein etwa 14-Jähriger. Sie alle waren in den Schulen des IS, erzählen seine Freunde. Im Mathematikunterricht hätten sie nicht mehr wie früher mit Äpfeln, sondern mit Munition rechnen müssen. Deshalb sei er schließlich lieber zu Hause geblieben, sagt der etwa zwölfjährige Barzan. Seit nun insgesamt drei Jahren.
Nachdem die Lehrer sie aufgefordert hätten, sich wie kleine Afghanen anzuziehen, habe sein Vater ihn nicht mehr hingeschickt. Und der IS ließ diese Schulverweigerung offenbar auf sich beruhen.
Am Teddy geübt, wie ein Mensch enthauptet wird
Patrone plus Patrone, Bombe plus Bombe, erzählen die anderen, so sei der Mathematikunterricht unter dem IS gelaufen. Im Schulbuch vom IS seien unterschiedliche Waffen abgebildet gewesen. Und Barzans Freund ergänzt: Der IS-Lehrer sei mal mit einem großen Teddy angekommen. An diesem Modell habe die Klasse dann lernen müssen, wie man einen Menschen enthauptet.
Barzan will trotzdem später mal Lehrer, sogar Schuldirektor werden. Sein Freund ist bescheidener: Einfach nur lesen und schreiben können, das ist sein Ziel. Dabei, erklärt der einheimische Begleiter Fuad, handelt es sich bei den Kindern von Mossul eigentlich um die Kinder der langjährigen Staatselite:
"90 Prozent von irakischer Armee, Hoch-Generäle und Kommissare, alle kamen aus der Stadt Mossul. In der Geschichte des Irak, das erste Mal, wir sehen Leute aus Mossul als Flüchtlinge. Sie waren immer mit dem Regime. Sie waren hochnationalistisch. Sie waren starke Unterstützer von Saddam Hussein."
So gut wie alle Einwohner sind arabische Sunniten, gehören also zur Bevölkerungsgruppe, die der gestürzte Diktator Saddam Hussein in dieser Kurdenregion gezielt angesiedelt hatte. Damals ging es dem Regime darum, das ganze Land zu arabisieren.
Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, entwickelte sich zu einer Art von Kaderschmiede. Doch denjenigen, die einst dafür bestimmt waren, hohe Beamte, Militärs und Polizisten zu werden, ist heute nicht einmal die Grundschulausbildung sicher.
"2014, als Mossul vom IS erobert wurde, ging mein Sohn in die zweite Klasse. Ich konnte ihn von hier rausbringen. Deshalb ist er jetzt in die fünfte aufgerückt. Aber seine Schulkameraden, die noch in der Stadt geblieben sind, sind bis heute auf dem Wissensstand der zweiten Klasse."
Radikalisierung auf beiden Seiten
Khalaf Obeid repräsentiert die hiesigen Sunniten und fungiert als Planungschef beim Rat von Niniveh, der Provinz, deren Hauptstadt Mossul ist. Die heute Zehnjährigen hält er für eine verlorene Generation.
"Auch im befreiten Mossul gibt es bis heute keine Schule. Die Lehrer bekommen seit zwei Jahren kein Gehalt. Und in den Flüchtlingslagern ringsum hat man insgesamt acht große Zelte für die provisorischen Schulen vorgesehen. Acht Zelte für 7500 Kinder. Wenn das so weitergeht, gibt es bald neben dem Problem mit dem Terror noch ein anderes Problem: Jugendkriminalität."
Eine ganze Generation junger Sunniten, weitgehend ohne Bildung beziehungsweise mit den Gewaltfantasien infiltriert, die ihnen die Dschihadisten des IS vermittelt haben. Zudem mit dem Gefühl, zu den Enterbten und Gedemütigten zu gehören. Sie trifft auf eine Generation junger Schiiten, die ebenfalls radikalisiert wurden.
"Checkpoint, ja. Man merkt hier, ein Auto, steht darauf: Hascht al Schaabi. Checkpoint von Hascht al Schaabi-Milizen."
Junge Männer, kaum älter als fünfzehn oder sechzehn, schwarz gekleidet, mit Halstüchern und um den Körper geschlungenen Patronengurten. Im befreiten Mossul stößt man überall auf sie. An ihren Fahrzeugen und Kontrollposten flattern Fahnen, auf denen die von den Schiiten verehrten Heilsbringer zu sehen sind: Prophetenschwiegersohn Ali und dessen Sohn Hussein. Sie halten uns an und wollen unsere Presseausweise sehen.
"Almania? How are you? Fine! Milizionär klopft auf Auto. "OK." "Das war ein Checkpoint von Hascht al Schaabi."
Schiiten bilden zwar weltweit die Minderheit unter den Muslimen, stellen im Irak aber mit etwa 70 Prozent die Mehrheit. Sie erkennen traditionell nur die Nachkommen aus der Linie Alis, des Prophetenschwiegersohnes, als Führer an – oder jene Geistlichen, die sich auf Ali berufen.
Volksmilizen als tickende Zeitbombe
Immer wieder schärfen schiitische Prediger ihnen überall im Land ein, jetzt endlich sei die Zeit gekommen, um für die Jahrhunderte der Demütigung und Unterdrückung Rechenschaft zu fordern. Sie hätten es jetzt in der Hand, die lang ersehnte Gerechtigkeit selbst durchzusetzen.
Für Khalaf Obeid, der Mossuls Sunniten vertritt, sind die so genannten Volksmobilisierungskräfte eine tickende Zeitbombe.
"Die Schiitenmilizen sind noch gefährlicher als der IS. Der IS ist eine Gruppe, die offen außerhalb jeglicher Gesetze agiert, außerhalb von Recht und Ordnung. Aber die Hascht al Schaabi wurden durch irakische Gesetze ins Leben gerufen. Diese Kämpfer machen einfach, was sie wollen, und sind dabei auch noch durch das Gesetz geschützt. Wenn sie die Mehrheitsbevölkerung Mossuls weiter unter Druck setzen, kann das bewirken, dass der IS wieder zurückkehrt. Als Niniveh-Rat haben wir mit Mehrheit entschieden, dass die Hascht al Schaabi nicht nach Mossul vorrücken sollen. Aber Premierminister al Abadi interessiert sich für unser Votum nicht. In anderen Gegenden, in der sunnitischen Anbar-Provinz, in Ramadi, gab es bereits viele Übergriffe, die ich als Kriegsverbrechen bezeichne."
Was Mossul noch bevorstehen könnte, warnt der Sunnitenpolitiker Obeid, das lasse sich schon heute in erkennen. Die Stadt, rund 150 Kilometer weiter südlich, wird mehrheitlich von Kurden bewohnt.
Ende 2014 hatte die kurdische Autonomieregierung, wie in Mossul, Verstärkung aus Bagdad angefordert – zum gemeinsamen Kampf gegen den IS. Aus der Hauptstadt schickte man statt regulärer Einheiten aber schiitische Milizionäre. Männer wie Haydar Abu Seif, zu Deutsch: Vater des Schwertes.
"Unsere Einheit heißt Imam-Ali-Einheit. Sie ist dem Aufruf von Großayatollah Sistani gefolgt."
Der etwa 25-Jährige trägt eine schwarze Baseballkappe und Springerstiefel. An der Spitze von rund 20 ähnlich gekleideten Männern patrouilliert er durch die kurdisch geprägte Gemeinde. Kein Problem, meint Haydar.
"Ich selber stamme aus Nadschaf im Südirak. Nadschaf ist die Stadt des Führers der Gläubigen, Imam Ali, Friede sei mit ihm. Es ist die Stadt für alle auf der Welt. Denn Imam Ali wurde nicht allein zu den Schiiten, Sunniten oder Christen gesandt, sondern zur gesamten Menschheit. Unsere Volksmobilisierungskräfte sind hierhergekommen, um gegen den IS zu kämpfen, nicht gegen Kurden oder Sunniten. Wir kämpfen für die Menschlichkeit."
Krieg im Krieg
Viele Kurden hier sehen das ganz anders. Seit die Schiitenkämpfer hier sind, sagt einer von ihnen, bemühten sie sich offensichtlich, die Kurden aus den Schlüsselpositionen zu verdrängen – zugunsten einer Minderheit turkmenischer Schiiten. Die kurdischen Peschmerga wiederum versuchten, das zu verhindern. Im April 2016 sei es zwischen beiden Gruppen sogar zu einem regelrechten Krieg gekommen.
"Die Kämpfe fingen damit an, dass Hascht al Schaabi-Milizionäre eine Handgranate auf das Haus eines Kurden geworfen hatten. Sie hatten im Vorfeld bereits die Eskalation geplant und sich ausreichend mit Waffen versorgt. Ich habe miterlebt, wie vier, fünf Tage lang von Straße zu Straße gekämpft wurde. Die Hascht al Schaabi haben auf Zivilisten und Punkte in verschiedenen Stadtteilen geschossen."
"Die beiden sind Brüder des Opfers. Das ist der Onkel des Kindes."
Am Eingang eines schwer beschädigten Wohnhauses in dieser Gemeinde südlich von Mossul, um die sich Kurden und Schiiten streiten. Der Mann, der uns die Tür aufmacht, deutet auf das andere Ende der Straße. Nicht weit entfernt, erklärt er, befand sich vor einigen Monaten eine Position der Schiitenmilizen. Von dort aus, sagt er, hätten sie eine Granate auf dieses Haus abgeschossen. Sein Neffe sei dabei getötet worden.
"Sein Name ist Abdullah Fakhil Amin. Er war zwölf Jahre alt und in der sechsten Klasse der Grundschule."
Niemand auf der Welt will etwas davon wissen
"Das war ein Mörser von Hascht al Schaabi. Sie wissen, dass hier hundertprozentig ein kurdischer Stadtteil ist. In dieser Sekunde war das Kind in der Toilette, als der Mörser hier getroffen hat. Deswegen hat er keine Chance gehabt."
Abdullahs Mutter erinnert sich an die letzten Momente mit ihrem Sohn.
"Kurz nachdem er getroffen worden war, konnte er noch sprechen. Ich rief seinen Namen. Er öffnete die Augen und antwortete mir. Er starb nicht gleich, es dauerte 20 Stunden."
Das Wohnzimmer der Familie ist von Trümmern übersät. Teile des Fensterkreuzes liegen auf dem Boden. Überall Glasscherben, Mauerteile, der Verputz der Wand. Durch das zerstörte Fenster fällt der Blick auf ein verkohltes und verbogenes Kinderfahrrad. Die Großmutter des Jungen hat miterlebt, wie das Projektil im Haus einschlug.
"Als das passierte, wusste nur seine Mutter, dass der Junge auf der Außentoilette vor dem Haus war. Sie versuchte noch, ihn zu retten, aber alles brannte. Wir hatten keinen Feuerlöscher und die Straßen waren leer. Schließlich kamen ein paar Leute von der Straße mit Handfeuerlöschern, aber es war zu spät. Im Krankenhaus ist Abdullah dann gestorben."
An die Regierung wenden? Welche Regierung?
Abdullahs Angehörige wissen noch immer nicht, wie sie sich verhalten sollen. Wie können sie irgendwo schriftlich festhalten lassen, dass der Junge eines unnatürlichen Todes starb; an wen sollen sie sich wenden? An die Regierung? Welche Regierung? Die Regierung, in deren Auftrag die Milizen operieren, mit den gleichen Waffen und den gleichen Rechten wie eine reguläre Armee? Oder sollen sie zur Polizei? Zu welcher Polizei? Zu der, die mit den Milizen kooperiert?
"Und was wird mit uns passieren? Wir haben Angst, dass wir einfach getötet werden oder spurlos verschwinden. Alles ist möglich. Die irakische Regierung unterstützt ja diese Gruppen. Und die meisten Polizisten hier sind turkmenische Schiiten, sie können Menschen einfach festnehmen und sie in eine andere Stadt abtransportieren, die vollständig unter Kontrolle der Schiitenmilizen ist."
Während die Weltöffentlichkeit darüber aufatmet, dass der IS in Mossul besiegt ist, sehen sich viele Iraker bereits mit einem neuen Extremismus konfrontiert. Und damit, fürchtet die Großmutter des Jungen, könnte es erst richtig losgehen.
"Bis jetzt spricht niemand darüber, was hier vor sich geht. Viele sind ums Leben gekommen, entführt worden, verschwunden. Aber niemand auf der Welt will etwas davon wissen."