Mythisches Unterholz

Mit "Wald aus Glas" zeigt sich der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib als Meister der Perspektive. Sein Roman lässt die Welt im Blick seiner beiden Heldinnen sehr unterschiedlich erscheinen: Mal getönt mit der Strenge des Alterns, mal mit der Maßlosigkeit der Pubertät.
In Märchenwäldern lauert das Unheil. Dort geht man verloren, besteht Prüfungen, und meistens führen die Wege der Vernunft wieder heraus aus dem mythischen Unterholz. Was aber wenn der Wald aus Glas besteht? Dann gäbe es da unendliche Spiegelungen, die Orientierung wäre schwer, wenn nicht unmöglich.

Dieses Motiv trifft die Idee des Textes genau: Die beiden Hauptfiguren, Roberta, eine 73-jährige Österreicherin, und Ayfer, eine 16-jährige Türkin, begeben sich tief hinein ins Dickicht der existentiellen Fragen. Und auch wenn sie zu wissen glauben, wohin es geht mit ihrem Leben, ihren Wünschen und Hoffnungen, sitzen sie doch einem Zerrbild auf. Im Glaswald erscheinen alle Pfade verschoben, gebrochen; das ergibt auf dem Weg Abweichungen mit drastischen Folgen.

Roberta lebt im Altenheim, täglich leidet sie mehr unter der Routine des staatlich geregelten Verdämmerns. Ihren Hund haben sie in ein Tierheim gegeben, der wird als erstes befreit. Dann folgt die minutiös vorbereitete Flucht. Allein diese Figur wäre ein ganzes Buch wert gewesen: die alte Frau als Gefangene nicht nur der Institutionen, sondern ihrer Erinnerungen und Schuldgefühle. Als junge Frau hatte sie aus Freiheitsdrang ihre Familie verlassen, jetzt muss sie dorthin zurück, wo ihre Lebensreise anfing, ins Salzkammergut, ihre Heimat.

Ayfers Gefängnis ist ein Ferienhotel am Schwarzen Meer. Dort soll sie, auf Wunsch der Familie, beim Onkel Köchin lernen, wird dann aber nur als Hilfskraft schikaniert. Ihr bisheriges Leben sah anders aus, in der Schweiz hatte sie sogar einen Freund. Die große Liebe und der Fluchtpunkt ihrer Phantasien, die sich zu einem Plan verdichten: abhauen aus dem sittenstrengen Haushalt, hinter dessen Kulissen Männer sich mit Alkohol und Zoten schadlos halten und Frauen ausgebeutet werden wie Vieh. Auch Ayfer riskiert die Flucht, ihr Weg führt über Österreich ins aargauische Suhr.

Es hätte Wehleidigkeitsprosa werden können. Aber Schertenleib ist ein Meister der Perspektive. Er zeigt uns die Welt konsequent im Blick der Heldinnen, und so ist das Geschehen mal getönt mit der Strenge des Alterns, mal mit der Maßlosigkeit der Pubertät.

Roberta wäre kein idealer Talkshowgast zu Fragen der Gleichberechtigung. Dafür ist sie zu unversöhnt mit ihrer Existenz, der Roman erspart ihr deshalb auch folgerichtig den Eklat am Ende nicht. Und Ayfer ist in der Verfolgung ihrer Pläne genauso rigide wie die Familie, die sie ablehnt. Auch hier Zwischentöne und Nuancen, die sich ein antimuslimischer Erbauungsroman niemals gestatten würde.

Werden sich die beiden Frauen begegnen auf ihrer Reise? Man wünscht es sich, schon von den ersten Seiten des Buches an. Sie könnten einander Rat geben und sich über die kulturellen Unterschiede und Altersgrenzen hinweg als Freundinnen begreifen, als "sisters in arms". Das wäre romantisch, aber es ist eben kein Hollywood-Film, sondern der sehr kluge Roman eines Schweizers, der weiß: Im Wald aus Glas trifft man selten andere, aber immer aufs eigene Spiegelbild.

Besprochen von Daniel Haas

Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas
Aufbau Verlag, Berlin 2012
285 Seiten, 19,99 Euro
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