Musikfernsehen nach Maß

Von Tarik Ahmia · 05.11.2012
Einfach nur Musikvideos gucken war gestern: Heute bieten Internetplattformen wie tape.tv die Möglichkeit, sein eigener Programmdirektor zu werden. Die Site "merkt" sich die Lieblingsvideos der Nutzer und stellt eine Reihe von ähnlich klingenden Musikvideos zusammen.
MTV, das amerikanische "Music Television", machte in den 80er Jahren aus der Musik der Jugend erstmals ein eigenes Programm. Jahrelang diente es der Musikindustrie als Vermarktungsplattform. Doch mit dem Einzug des Internets verblasste der Stern des Pioniers. Musikvideos werden heute vor allem im Netz geguckt – ohne MTV.

Aus dem Internet stammen auch die zeitgemäßen Nachfolger des klassischen Musikfernsehens. Ihre größte Neuerung ist, dass sich das Programm an den Geschmack jedes Zuschauers anpasst. QTom.tv oder Putpat.tv nennen sich zwei dieser Plattformen. Der erfolgreichste Erbe ist jedoch tape.tv. Jeden Monat unterhält das Berliner Start-Up etwa 3,5 Millionen Besucher mit personalisierten Musikvideos.

"Wie früher Fernsehen funktioniert hat, das ist vorbei. D.h. ich sende eine Sendung und alle müssen zugucken. Heute gilt: Ich möchte das sehen, was ich möchte, aber kannst du mich bitte inspirieren."

Gegründet wurde tape.tv vor vier Jahren von Conrad Fritsch. Der 39-Jährige mit Vollbart, vollem Haar und großer Hornbrille ist ausgebildeter Filmregisseur. Mit seinem Internetsender will Fritzsch die frühen Tugenden von MTV mit der Technik von heute verknüpfen.

"Das ist Musikfernsehen, so wie man es kannte, als es noch gut war. So wie in den Achtzigern, als es wirklich noch um Musik ging bei MTV, aber mit der Intelligenz des Netzes. Das bedeutet: mit der Intelligenz von Personalisierung. Das Ziel ist also: Ich schalte den Fernseher an und dann kommt etwas, was mich interessiert, ohne dass ich wissen musste, was ich wollte."

Sobald man die Seite von tape.tv im Browser öffnet, startet ein Musikvideo. Die Redaktion des Senders stellt täglich acht unterschiedliche Playlisten zusammen. Zuschauer können zwischen verschiedenen Stilen und Stimmungen wählen oder direkt nach Songs ihrer Wahl suchen. Die Playlisten dienen ihnen als Hilfestellung, um aus dem kaum überschaubaren Musikangebot im Netz den richtigen Sound für sich herauszufiltern.

Die 80 Mitarbeiter von tape.tv betreiben viel Aufwand, um mit ihrer Auswahl aus Neuerscheinungen und dem Bestand von 45.000 Musikvideos das Lebensgefühl ihres Publikums zu treffen. Die Überlegung dahinter: Viele überzeugte Zuschauer verleihen tape.tv Identität und hohes Ansehen. Ganz nach dem Sendermotto: "Fight For Music", kämpfe für Musik.

"MTV war gegen etwas und ich habe mich damit sehr gut gefühlt, denn ich bin anders als das System und die haben für und mit Musik eine ganz neue Welt für mich eröffnet. Ein alternatives Lebenskonzept. Heute funktioniert so vieles nicht auf der Welt, wir haben so eine große Verunsicherung, dass wir gesagt haben, wir möchten nicht gegen etwas sein, wir möchten für etwas sein, weil wir merken, dass Musikfernsehen nur deshalb nicht mehr funktioniert hat, weil es keine Heimat mehr hatte und wir wollen eine Heimat formulieren."

Diese neue Heimat kann sich jeder Nutzer nach seinem eigenen Geschmack einrichten. Wenn ein vorgeschlagenes Video nicht gefällt, lässt es sich per Mausklick verbannen. Andere Songs lassen sich ebenso einfach in das persönliche "Mixtape" übernehmen. So lernt tape.tv im Lauf der Zeit immer besser den individuellen Musikgeschmack kennen und bedient diesen mit passenden Vorschlägen.

Verstärkt wird die Bindung der Zuschauer an den Sender mit Hilfe sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter. Sie dienen tape.tv als unmittelbarer Kanal, um mit den Zuschauern über neue Musik, Konzerte und geplante Events zu kommunizieren.

Seit zwei Jahren produziert tape.tv auch eigene Fernsehsendungen, um aus der Abspielstation für Videoclips ein vollwertiges Musikfernsehprogramm zu machen.

Tape.tv ist für die Nutzer kostenlos und finanziert sich über Werbung. Um möglichst wenig Kunden durch Einblendungen zu vergraulen, experimentiert der Sender mit neuen, weniger aufdringlichen Werbeformen und Kooperationen.

Die Erfolge der letzten Jahre lassen die Ziele von tape.tv nicht weniger ambitioniert erscheinen. Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung werden die gesamte Medienproduktion weiter umkrempeln, sagt Conrad Fritsch. Auf die Frage, ob der interaktive Ansatz von tape.tv ein Vorbild für klassische Fernsehsender sein kann, hat er eine klare Antwort:

"Es ist das Modell fürs klassische Fernsehen. Meine Vorstellung von zukünftigem Fernsehen ist, ich kriege erstmal etwas angeboten, es muss eine Möglichkeit eines Vorprogramms geben, in das ich jederzeit eingreifen kann. Ich wechsle dann vom Terrestrischen ins Internet, ohne dass sich mit der Fernbedienung 25 Sachen eingeben muss. Es muss die Einfachheit vom Fernsehen damals haben und es muss die Intelligenz vom Netz haben."

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