"Ich will nicht nur Soundtracks schreiben"
Für seine Filmmusik hat der Isländer Jóhann Jóhannsson bereits einen Golden Globe Award erhalten. Nun veröffentlicht er erstmals seit sechs Jahren wieder ein reguläres Album: "Orphée" zeichnet sich durch seine instrumentale und klangliche Artenvielfalt aus.
"Ich bin nicht der Einzige, den dieser Mythos fasziniert. Viele große Künstler – viel größer als ich – haben sich schon mit ihm auseinandergesetzt."
Orpheus – von Monteverdi bis Philip Glass und Nick Cave haben sich allein in der Musik bereits unzählige Künstler von dem sagenumwobenen Sänger und Dichter aus der griechischen Mythologie inspirieren lassen, von dessen letztlich vergeblichen Versuch, seine Geliebte aus der Unterwelt zu retten. Jóhann Jóhannsson befindet sich also in illustrer Gesellschaft – und macht sich diese Tatsache zu Nutze:
"In Jean Cocteaus 1949er-Filmversion von 'Orpheus' gab es diese kryptischen Übertragungen im Autoradio. Die haben mich an die "Zahlensender" aus dem kalten Krieg erinnert – also hab ich Mitschnitte davon in meine Musik integriert. Für mich klingen die fast wie ein Orakel, Botschaften aus dem Jenseits oder eine Stimme aus der Unterwelt".
Stilistische Wandlungsfähigkeit
"Ich hab diese Methode schon früher gern angewandt. Ich mag diesen Kontrast aus expressiven Streicherklängen und einer nüchternen Auflistung von Zahlen in Deutsch."
Kryptische Kurzwellen-Botschaften in romantischen Streicherarrangements, Minimal Music im Zusammenspiel mit Barocken Klängen; bei seinem Album-Debüt für die "Deutsche Grammphon" lebt Jóhann Jóhannsson seine stilistische Wandlungsfähigkeit nicht nur hemmungslos aus – er macht sie sogar zum Thema:
"Ich denke, bei diesem Album geht es um Veränderungen, um Wandel, aber auch um Grenzen und darum, sie zu überschreiten. Es geht um den Mut, den man dazu braucht, und auch um den Wechsel von Dunkel zu Hell, von Schlafen zum Wachsein, von Leben zu Tod. Das fand ich schon immer faszinierend; irgendwie ist der Weg dahin, dieser Prozess, viel interessanter als das Endergebnis."
Sechs Jahre hat sich Jóhann Jóhannsson für dieses Projekt Zeit gelassen, kehrte neben seiner Arbeit als Filmkomponist immer wieder ins Studio zurück. Dabei hat sich der Isländer in Hollywood längst einen Namen gemacht: Einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung gab es für den Stephen-Hawking-Film "Die Entdeckung der Unendlichkeit", eine weitere für den Thriller "Sicario" in diesem Jahr. Ein lukratives Geschäft – doch nur auf die Filmmusik möchte sich der 46-Jährige nicht reduzieren lassen.
"Für mich gehört beides einfach zusammen"
"Ich will auf keinen Fall nur Soundtracks schreiben – die Hälfte der Zeit möchte ich meine eigenen Sachen schreiben. Die Filme, die ich mache, suche ich mir sehr sorgfältig aus: Ist das Drehbuch interessant? Die Story? Kann ich etwas zu diesem Projekt beitragen? Sind die Leute nett und talentiert? Wenn all das zusammenpasst – dann werde ich den Auftrag höchstwahrscheinlich übernehmen."
In diesem Fall war Jóhannsson nicht auf Drehbücher oder talentierte Mitstreiter angewiesen – mit "Orphée" präsentiert er der Welt seine ganz persönliche Mischung aus filigranen Fragmenten und großer Geste. Und doch kann er die Filmmusik auch bei diesem Projekt nicht komplett außen vor lassen.
"Für mich gehört beides einfach zusammen, da sich die Filmkompositionen auch aus meiner früheren Solo-Arbeit entwickelt haben. Irgendwie geht es für mich also wieder so ein bisschen zurück zu meinen Wurzeln; ich war ja viele Jahrelang als Solist auch auf Tour unterwegs, bis die Filmaufträge Überhand nahmen. Aber das heißt nicht, dass ich nicht weiter an meinen eigenen Sachen gearbeitet hätte – sie waren nur nach außen hin nicht mehr so sichtbar!"
Neue Wohnung an der ehemaligen Maueranlage
Mit dem Umzug von Kopenhagen nach Berlin bekamen die Solo-Ambitionen von Jóhann Jóhannsson dann neuen Schwung. Was könnte für ein Projekt, das unter dem Motto "Wandel" und "Grenzen überschreiten" steht, inspirierender sein als eine Wohnung an der ehemaligen Maueranlage?
"Hier in Berlin ist es zu dem geworden, was es jetzt ist – auch wenn die Saat schon in Kopenhagen gelegt wurde. Ich benutze für dieses Album gern eine Garten-Metapher: Ich habe dieses kleine Ökosystem an Ideen sechs Jahre lang gehegt und gepflegt, gewässert und gedüngt, und langsam ist es zu dem herangewachsen, was man jetzt auf der CD hören kann."
Herausgekommen bei diesem behutsamen Wachstumsprozess ist eine instrumentale und klangliche Artenvielfalt, die Jóhann Jóhannssons "Orphée" zu einer Art Oase in der oft kargen Wüste der Neuen Klassik- und Ambient-Szene macht. Präzise, aber unaufdringlich entwickelt er Stimmungsbilder auf den Spuren von Orpheus – wehmütig und gleichzeitig hoffnungsvoll. Denn letztendlich spiegelt sich in der Musik auch der persönliche Wandel im Leben des Komponisten wider.
"Der Umzug in eine neue Stadt, ein neues Land kann auch etwas Traumatisches haben – das ist eine große Veränderung. Das Album ist also auch so etwas wie Tagebuch dieser Zeit."